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Ausgabe:

Juli/August/2023

Spalte:

703-705

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Lohfink, Gerhard

Titel/Untertitel:

Die wichtigsten Worte Jesu.

Verlag:

Freiburg i. Br. u. a.: Verlag Herder 2022. 424 S. Geb. EUR 32,00. ISBN 9783451391903

Rezensent:

Walter Klaiber

Gerhard Lohfink, Jahrgang 1934, hat in den letzten Jahren eine Reihe von Arbeiten veröffentlicht, in denen er den Ertrag seiner exegetischen Arbeit einem breiteren Kreis von Interessierten zugänglich macht: Jesus von Nazaret – Was er wollte, wer er war, 8. Aufl. 2020; Ausgespannt zwischen Himmel und Erde. Große Bibeltexte neu erkundet, 2. Aufl. 2021; oder Die vierzig Gleichnisse Jesu, 7. Aufl. 2023. Die Zahl der Auflagen zeigt, dass er damit tatsächlich eine breite Leserschaft erreicht. Nun hat er mit Die wichtigsten Worte Jesu einen weiteren Band folgen lassen, der ebenfalls schon nach einem Jahr in zweiter Auflage erschien. L. legt in ihm 70 Worte Jesu aus einer Sammlung von 150 Logien aus, die er mit mehr oder weniger großer Wahrscheinlichkeit für authentisch hält.

Die 70 Logien sind thematisch in sieben Kapitel geordnet. Ihre Überschriften geben ziemlich genau den Inhalt an: I. Das Ereignis der Gottesherrschaft; II. Die Aussendung der Zwölf; III. Jünger-existenz; IV. Leben im Licht der Gottesherrschaft; V. Der Hoheitsanspruch Jesu; VI. Die Krise Israels; VII. Im Angesicht des Todes. Damit ist die Breite der Verkündigung Jesu recht gut erfasst.

Bei der Auslegung der einzelnen Logien folgt L. meist denselben methodischen Schritten. Er versucht zunächst den ursprünglichen Wortlaut zu rekonstruieren. Viele von ihnen sind in der Q- oder der Markustradition doppelt oder auch mehrfach überliefert. Hier gilt es nach der ältesten Fassung zu suchen, und manchmal soll eine Rückübersetzung ins Aramäische helfen, herauszufinden, wie ein bestimmtes Wort ursprünglich gelautet hat. Wichtig ist aber auch, nach dem ursprünglichen Kontext zu fragen. Nach L. ist nicht selten schon die älteste Fassung eines Wortes in einem sekundären Zusammenhang überliefert, und der ursprüngliche Ort eines Wortes muss aus seinem Wortlaut erhoben werden. Sprechendes Beispiel für beide Schritte ist die Auslegung von Mk 4,11 (294–299), das ursprünglich gar nichts mit den Gleichnissen zu tun hatte.

L. ist es wichtig, die Radikalität der Worte Jesu nicht abzumildern. Manche fordern wirklich sehr Erstaunliches. Allerdings betont er auch bei vielen dieser Worte, dass sie sich nicht an die Allgemeinheit richten, sondern zunächst nur den Jüngern Jesu gelten. Und auch für sie versucht er zu zeigen, wie manche von ihnen aus der besonderen Situation einer Gruppe von Menschen im ländlichen Galiläa zu verstehen sind, die unter dem Eindruck leben und wirken, dass das Kommen der Herrschaft Gottes unmittelbar bevorsteht. So erklärt sich das Verbot jeglicher Ausrüstung für Jesu Boten in Lk 9,3 damit, dass sie auf keinen Fall mit den zelotischen Gotteskriegern verwechselt werden dürfen, oder das seltsame Grußverbot in Lk 9,4 mit dem Hinweis auf den im Orient bei der Begrüßung üblichen Austausch von Banalitäten und Neuigkeiten, mit dem sich Jesu Jünger nicht aufhalten sollen.

Schwierig finde ich, dass L. den »Bruder« in den Anweisungen von Mt 5,21 f., 5,23 f. oder 7,1 nur auf »Glaubensgeschwister« beziehen will, und er in seiner ausführlichen Besprechung von Lk 6,27 f./ Mt 5,44 f. das Gebot der Feindesliebe – zumindest primär – auf die Mitglieder des Gottesvolkes beschränkt. Und obwohl L. damit fast einem Konsens der neueren Exegese folgt, bin ich überzeugt, dass mit den »geringsten Brüdern« in Mt 25,31–46 nicht nur die verfolgten Christen gemeint sind. Mag das für die Endfassung bei Matthäus diskutabel sein, so scheint mir das für den Grundstock der Erzählung schwer denkbar; die Nöte, die genannt werden, sind typische Beispiele für die Not armer und ausgegrenzter Menschen, wie sie auch im Alten Testaments immer wieder aufgezählt werden, und ganz unspezifisch für die Situation verfolgter Christen.

Das Urteil über die Authentizität der einzelnen Worte ist abgewogen, obwohl man im Einzelnen natürlich unterschiedlicher Meinung sein kann. Bei den Worten, in denen Jesus über die Bedeutung seines Todes spricht, ist L. vielleicht etwas zu optimis-tisch. Aber das sind bekanntlich sehr schwierige Entscheidungen, bei denen viel vom Vorverständnis des Exegeten abhängt. Und so wichtig es L. auf der einen Seite ist, die ursprüngliche Gestalt und Verortung eines Wortes zu rekonstruieren, so hat das theologisch nicht das alles entscheidende Gewicht, da er nicht der Meinung ist, dass uns nur die ipsissima verbi des Menschensohns Vollmacht geben können. Auch die Fortschreibung und Nachwirkung der Worte Jesu im Zeugnis der Evangelien ist theologisch wichtig.

Gelegentlich weiß L. etwas zu genau, was Jesus gemeint haben kann, wenn er z. B. schreibt: das »lag Jesus fern« oder »Jesus will natürlich kein neues Recht einführen« (168). Aber das wird dadurch aufgewogen, dass er fast immer sehr sorgfältig die unterschiedlichen Auffassungen neuerer Exegese notiert und sie fair, aber mit klarer eigener Meinung diskutiert. So ist sein Buch ein sehr hilfreicher Kommentar zu einer Reihe von zentralen Worten Jesu und zeigt einen wichtigen Ausschnitt der Verkündigung Jesu (die Gleichnisse sind ja in einem anderen Band behandelt). Ihre Prägung durch die Gewissheit der kommenden Herrschaft Gottes wird deutlich herausgearbeitet.

Liest man das Buch kontinuierlich, dann stellt sich freilich auch der Eindruck ein: Eine Sammlung von Logien ist noch kein Evangelium. Selbst die Logienquelle enthielt Gleichnisse und wohl auch die eine oder andere Wundergeschichte (Mt 8,5–13 par Lk 7,1–10). Die frohe Botschaft von Jesus umfasst Worte und Taten, sein Reden und sein Verhalten, sein Wirken und sein Leiden. Aber darüber dürfte mit L. kein Dissens bestehen, und so bleibt zu hoffen, dass sein Buch vielen Lesern und Leserinnen – und gerade auch Nichttheologen – die Bedeutung der Worte Jesu erschließt.