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Ausgabe:

Juli/August/2023

Spalte:

701-703

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Klumbies, Paul-Gerhard

Titel/Untertitel:

Neutestamentliche Debatten von 1900 bis zur Gegenwart.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2022. XI, 214 S. Kart. EUR 19,00. ISBN 9783161615351.

Rezensent:

Werner Zager

Paul-Gerhard Klumbies bietet einen instruktiven Einblick in die innerhalb der neutestamentlichen Wissenschaft geführten Diskussionen der letzten 125 Jahre. In seiner forschungsgeschichtlichen Rückschau ergeben sich drei Debattenschwerpunkte: »das Verhältnis zwischen dem antiken Weltbild und der durch die Aufklärung geprägten Weltsicht der Gegenwart; die seit dem 18. Jahrhundert virulente Frage nach der Beziehung zwischen Jesus als historischer Persönlichkeit und der auf ihn bezogenen Christologie; die Bestimmung der Relation zwischen Judentum und Christentum« (2).

Im Gefolge des Aufstiegs der Geschichtswissenschaft zur geis-tesgeschichtlichen Leitwissenschaft im 19. Jh. mutierte die Bibelwissenschaft gemäß dem Urteil K.’ zu einem »historischen Fach«: »Was theologisch gilt, soll sich an Jesus orientieren, und zwar an Jesus, wie er mit den Mitteln historischer Forschung rekonstruiert wird.« (15) Albert Schweitzers »Geschichte der Leben-Jesu-Forschung« (1906; 21913) markiert dann das Ende der ersten Phase historischer Jesusforschung. Weiterhin sollte im Sinne William Wredes an die Stelle einer Theologie des Neuen Testaments eine Religionsgeschichte des frühen Christentums treten.

In die erste Hälfte des 20. Jh.s fällt der Durchbruch der formgeschichtlichen Methode in der neutestamentlichen Exegese mit den einschlägigen Arbeiten von Karl Ludwig Schmidt, Martin Dibelius und Rudolf Bultmann. K. erklärt dies mit der zeitgeschichtlichen Situation nach dem 1. Weltkrieg und kann von einer »Epoche des Fragments« (47) sprechen, die ihren Ausdruck in Malerei, Musik und Literatur gefunden habe – und eben auch in der Theologie. So berechtigt eine solche zeitgeschichtliche Kontextualisierung ist, wird diese doch etwas überstrapaziert, wenn K. behauptet, die Überlieferung in den synoptischen Evangelien biete »in den Werken von Schmidt, Dibelius und Bultmann das Bild einer Trümmerlandschaft« (48). Fußt doch Bultmanns »Geschichte der synoptischen Tradition« auf den Arbeiten von Wrede und Julius Wellhausen aus der Zeit der Wende vom 19. zum 20. Jh. Dabei ging es Bultmann darum, die von Hermann Gunkel am Alten Testament erprobte formgeschichtliche Betrachtung auf die Synoptiker anzuwenden. Eine Verbindung zur Liberalen Theologie erkennt K. zu Recht in Bultmanns Programm der Entmythologisierung, insofern dieses zum einen die Verknüpfung des Evangeliums mit dem antiken Weltbild als Problem thematisiert und zum anderen die »anthropologische Konstanz« über die Zeiten hinweg hervorhebt (43).

Für die 1950er- und 1960er Jahre macht K. nach den beiden Weltkriegen eine »neue Sehnsucht nach Kontinuität« aus, die auch in der neutestamentlichen Wissenschaft ihren Ausdruck gefunden habe – und zwar im »literarischen Genre« einer Theologie des Neuen Testaments, in der Redaktionsgeschichte der Evangelien und in der »neuen Frage nach dem historischen Jesus« (75). Auch wenn die von K. vorgenommene zeitgeschichtliche Verortung plausibel erscheint, ist darauf hinzuweisen, dass die Anfänge der von Bultmann nach dem Ende des 2. Weltkriegs niedergeschriebenen »Theologie des NT« in seine Vorlesungen zurückreichen, die er ab dem Sommersemester 1917 über diese Thematik hielt. Wie K. darlegt, befindet sich Bultmanns Konzeption der Theologie des Neuen Testaments im Gegensatz zu Harnack und der Liberalen Theologie. Wird doch die Verkündigung Jesu lediglich zu den Voraussetzungen der Theologie des Neuen Testaments gerechnet, die die Gedanken des christlichen Glaubens zu entfalten habe. Im Zentrum der Darstellung stehen folglich die paulinische und die johanneische Theologie mit dem »dialektisch-theologischen Primat der Christologie« (77). Gerade für Studierende dürfte es hilfreich sein, dass K. auch die an Bultmanns Werk geübte Kritik behandelt. Weiter werden die Ergebnisse der redaktionsgeschichtlichen Untersuchungen von Willi Marxsen, Hans Conzelmann, Günther Bornkamm u. a. sowie die neueren Theologien des Neuen Testaments von Conzelmann, Eduard Lohse und Ferdinand Hahn vorgestellt. Im Anschluss an Kurt Hübner plädiert K. für eine »Neubewertung des Mythos«, der hinsichtlich der Rationalität dem aufgeklärten Denken ebenbürtig sei, was eine theologische Wertschätzung der »Narrativität der synoptischen Evangelien« (94) zur Folge hat. Ausführlicher referiert K. die von Ernst Käsemann 1953 neu angestoßene Debatte um den historischen Jesus (95–105). Dabei unterstreicht er Käsemanns theologisches Motiv der »Sicherung der Inkarnation« (99), d. h. die Rückbindung des Evangeliums an Jesus als historischer Person, während nach Bultmann der christliche Glaube allein auf der Auferstehung Jesu Christi basiere (104). Auch Bultmanns Antwort an seine Kritiker wird differenziert nachgezeichnet (106–116).

Mit gutem Grund widmet K. Bultmanns häufig missverstandenem »Daß des Gekommenseins Jesu« eine sorgfältige Reflexion (117–132). Über die »reine Tatsache des Lebens Jesu als eines irdischen Menschen« hinaus bedürfe die Christologie Bultmann zufolge um der Unableitbarkeit des Heilshandelns Gottes an dem Gekreuzigten willen keiner Anbindung an Jesu Person oder Verkündigung als historischer Basis (123.126). In dem mit »Der Streit um die Auferstehung Jesu« überschriebenen Abschnitt (139–146) erörtert K. die von Bultmann (Auferstehung ins Kerygma) und Marxsen (Auferstehung als Interpretament für die Fortführung der »Sache Jesu« nach dessen Tod) ausgelösten Debatten.

Bei einer Neuauflage sollte auch die von Gerd Lüdemann neu entfachte Diskussion berücksichtigt werden. – Mit Jürgen Beckers Beitrag von 1975 sei dann der Gottesglaube Jesu als maßgeblich für das Verständnis von Ostern geltend gemacht worden: Jesu Auferweckung als Gottes Ja zum hingerichteten Jesus und Bestätigung von dessen Gottesglauben (146 f.). Am Ende des Kapitels über die Debatten der 1950er- und 1960er-Jahre geht es um die »Kritik der Formgeschichte« (einerseits innerhalb des theologisch konservativen Lagers: Harald Riesenfeld, Birger Gerhardsson und seit den 1980er-Jahren Rainer Riesner, andererseits ab 1978 innerhalb der Bultmann-Schule: Walter Schmithals) (152–160) und um die »Auseinandersetzungen um die Grundlegung der Christologie« (160–162).

Das Schlusskapitel ist der Zeit von 1970 bis zur Gegenwart gewidmet. Nach dem Urteil von K. ist in dieser Zeit die amerikanische neutestamentliche Wissenschaft »zu einer einflussreichen Trendsetterin der Agenda neutestamentlicher Wissenschaft« ge- worden (163). Dies zeigt sich in den Debatten über die »Third Quest«, die sog. dritte Suche nach dem historischen Jesus (164–167), die »New Perspective on Paul«, die Paulus als »bleibendes Mitglied der jüdischen religiösen Gemeinschaft wahrzunehmen« bestrebt ist (167–170), und die »Within Judaism«-Forschung, der die neutes-tamentlichen Schriften »als Zeugnisse eines innerjüdischen Diskurses und Literatur des Judentums« gelten (171–173). Insbesondere mit Letzterer und ihren hermeneutischen Implikationen setzt sich K. kritisch auseinander (173–188). Über eine historisch-philologisch ausgerichtete Exegese hinaus plädiert er für eine Auslegung der Texte des Neuen Testaments unter theologischer Perspektive, die voraussetzt, dass sich in diesen Schriften »Gott als Gott zu Wort meldet« (188). In einem knappen Ausblick (189 f.) unterstreicht K. die bleibende Bedeutung der Diskussionsstränge der neutestament- lichen Forschung seit 1900. Das Buch wird abgerundet durch ein Literaturverzeichnis sowie ein Personen- und Sachregister. Es sei insbesondere allen Theologiestudierenden zur Lektüre empfohlen, die hier eine klar und prägnant formulierte Einführung in die neutestamentlichen Debatten erhalten, die noch andauern bzw. die nach wie vor von hoher gesamttheologischer Relevanz sind.