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Ausgabe:

Juli/August/2023

Spalte:

694-697

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Funke, Tobias

Titel/Untertitel:

Der Priester Pinhas in Jerusalem und auf dem Berg Garizim. Eine intertextuelle Untersuchung und literar-, sozial- und religionsgeschichtliche Einordnung.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2023. X, 550 S. = Orientalische Religionen in der Antike, 51. Lw. EUR 159,00. ISBN 9783161607714.

Rezensent:

Johannes Thon

Die literarische Figur des Priesters Pinhas ben Eleasar spielt im Erzählzusammenhang von Pentateuch, Josua- und Richterbuch nur sehr punktuell eine Rolle. Demgegenüber erregen Dinge, die über ihn gesagt werden, besondere Aufmerksamkeit. Ihm (und nicht Aaron) wird der ewige Priesterbund verliehen (Num 25,13). An seinem Beispiel wird der gegen Mischehen (mit kritischem Blick auf Mose) gerichtete Exklusivitätsanspruch Israels in einem spontanen Gewaltausbruch auf die Spitze getrieben (Num 25,1–18). Mit einer lokalen Pinhas-Tradition im Gebirge Ephraim (Jos 24,33) wird der Text des Josuabuches abgeschlossen, bzw. mit der Frage nach dem Verbleib der Bundeslade im Richterbuch (Ri 20,27 f.) die buchüberspannenden Zusammenhänge gestaltet. Besonders im Sirach- und 1. Makkabäerbuch zeigt sich das große Potenzial, auf diese Figur zur eigenen Legitimation Bezug zu nehmen. Rezeptionsprozesse in Rabbinica und der samaritanischen Tradition überhöhen die Figur auf je eigene Weise. Eine kritische oder zurückhaltende Haltung zu Pinhas wird dagegen für Qumran bzw. in der rabbinischen Literatur wahrgenommen (233–237).

Tobias Funke legt mit seiner Dissertation zum Priester Pinhas (was auch die Texttraditionen zu Pinhas ben Eli mit einschließt) ein Deutungsmodell zu dieser Figur und den anzunehmenden literaturbildenden Vorgängen vor. Unter umfangreicher Auswertung der Forschungsdiskussion um die Redaktionsgeschichte von Hexateuch, Pentateuch und Enneateuch sowie der Auswertung der archäologischen Erforschung Judäas und Samarias und der damit korrespondierenden sozialgeschichtlichen Modelle beschreibt er Pinhas als wichtiges Erzählelement einer spätpriesterlichen Bearbeitung in den Büchern Exodus, Numeri und Josua, die eine »pan-israelische«, am Hexateuch-Erzählbogen orientierte, Perspektive einnimmt, und in frühhellenistischer Zeit im Umfeld des Heiligtums auf dem Garizim entwickelt wurde. Demgegenüber wurde nach F. in Ri 20,27 f. und damit korrespondierend im proto-MT des Josua-Schlusses die dort in der LXX erwähnte Grabtradition getilgt, um im Interesse einer Jerusalem-Orientierung unter hasmonäischer Herrschaft (in Korrelation mit der Zerstörung des Garizim-Heiligtums) die Formation des Enneateuch zu ermöglichen. Die Aufnahme von bekannten redaktionsgeschichtlichen Modellen erfolgt dabei mit sehr spezifischen eigenen Akzentsetzungen durch F.

Die wichtigste Verschiebung geschieht durch die eben schon angedeutete Entscheidung des Autors, die Rolle Samarias, bzw. der YHWH-Gemeinschaft um den Berg Garizim für die Religions- und Sozialgeschichte der südlichen Levante ernst zu nehmen und der traditionell geprägten Vorentscheidung für eine Jerusalem-Orientierung entgegenzutreten. F. greift damit die neueren archäologischen Forschungsergebnisse zum Heiligtum auf dem Garizim auf, das schon im 5./4. Jh. v. Chr. nachgewiesen wurde (und wo der Name Pinhas inschriftlich verhältnismäßig prominent belegt ist). Das korrespondiert damit, dass auch zur Textgeschichte des Pentateuch vermehrt Stimmen zu Wort kommen, die den (mündlichen und schriftlichen) samaritanischen Textüberlieferungen ein sehr viel höheres Gewicht zutrauen und manchmal sogar die Sichem-Orientierung des Pentateuch als primär ansehen.

Diese gut begründete Vor-Annahme wird von F. nun sehr konsequent auf die verschiedenen literar- und sozialgeschichtlichen Fragestellungen angewendet. Sein Modell eröffnet dabei immer wieder überraschende Blickwinkel. Manche Teil-Hypothesen lassen sich dann aber auch leicht aus einem Systemzwang heraus erklären. Dieser Eindruck entsteht etwa bei dem Postulat einer Grundgestalt des Sirach-Buches, das erst durch eine jerusalemorientierte Redaktion die entsprechenden Perspektivverschiebungen erfahren habe.

Solche weitreichenden redaktionsgeschichtlichen Hypothesen (wie auch zu Komplexen wie Pentateuch, Hexateuch und Enneateuch!) können nachvollziehbarer Weise nicht überall durch literarkritische Analysen nachgewiesen werden. Deshalb rezipiert F. den Forschungsdiskurs zu diesen Themen und versucht dabei immer wieder Erkenntnisse als eine Art »Konsens durch Stimmenmehrheit« festzuhalten. Entsprechend dem üblichen (aber auch hochgradig spekulativen!) methodischen Vorgehen werden Redaktionsschichten speziell anhand von identifizierbaren Aussagetendenzen postuliert, wie etwa dem Landkonzept, der Haltung zur Priesterschaft bzw. zur Mischehenproblematik.

Es sei hier wenigstens auf die fundamentale methodische Kritik durch B. Ziemer (Zur Kritik des Wachstumsmodells, 2020) hingewiesen. Wenn F. schreibt, dass »die betreffenden Texte von beiden Seiten« – die miteinander in einer Art Korrespondenz gestanden hätten – »stetig überarbeitet wurden« (482), müsste dabei doch jedes Mal das jeweilige Buch als neue Handschrift abgeschrieben (und alle vorhandenen alten vernichtet) worden sein!

Einerseits anerkennenswert und andererseits problematisch erscheint mit Blick auf die Methodik auch die starke Inanspruchnahme des Begriffes »Intertextualität«. Denn die Wechselbeziehungen zwischen Texten, bzw. die Mehrschichtigkeit von Themen in einem Text, könnten mit diesem Terminus gerade fruchtbar gemacht werden, ohne redaktionelle Stufen oder literarische Abhängigkeiten annehmen zu müssen. Die intertextuellen Bezüge erfahren in F.s Arbeit eine ausführliche Würdigung und übersichtliche Darstellung. Und das kann für Leserinnen und Leser sehr erhellend sein. Es zeigt vor allem deutlich, dass die Figur des Pinhas zu einer großen Fülle an Bibeltexten sehr verschiedener Textbereiche Wechselbeziehungen aufweist, die überraschende Deutungshorizonte eröffnen. In der Auswertung werden diese Beobachtungen zur Intertextualität allerdings vor allem für diachrone Entscheidungen in den Dienst genommen.

Viel überzeugender wirken F.s Argumentationen überall da, wo die Hypothesen zur Textentstehung auch mit entsprechenden Variationen unter den Textzeugen korrelieren. Die Versionen werden sehr ausführlich mit in den Blick genommen und ausgewertet. So spiegeln sich die Eingriffe in Jos 24,33 und in Ri 20,27 f. insofern in der LXX bzw. der Vetus Latina, dass die ursprüngliche griechische Fassung offenbar das Wirken von Pinhas am Ende des Josuabuches enden lässt. Ob dieser griechische Josua-Schluss auf eine rekonstruierbare hebräische Vorlage rückführbar ist, wird von F. mit Für und Wider auf S. 113 f. verhandelt. F.s Erklärungsmodell basiert besonders mit Blick auf Jos 24,33 und Ri 20,27f. auf einer älteren These von A. Spiro (The Ascension of Phinehas, Proceedings of the American Academy of Jewish Research 22 [1953], 91–114), der einen samariaorientierten Übergang von Josua zu Richter in den griechischen Fassungen belegt sieht, während Jerusalemer Kreise Pinhas gegenüber eher reserviert sind – und speziell seine Grabtradition unterdrücken. Spiro musste dafür freilich keine hebräische Vorlage konstruieren, sondern konnte sich mit traditionskritischen Argumenten auf den MT beziehen!

Aus Sicht des Rezensenten ist es verwunderlich, dass unter dieser Voraussetzung der samaritanischen Pinhas-Grab-Tradition in Awarta (ansatzweise 155) nicht mehr Gewicht zuerkannt wird. Denn da auch dieser Ortsname (wie der Eigenname Pinhas s. o.) schon durch die Inschriften vom Garizim in seiner Bedeutung für die dortige Gemeinschaft um die Zeitenwende nachgewiesen ist, sollte auch mit Blick auf diese seit dem Mittelalter stabil belegte Lokaltradition das Vorurteil gegen die samaritanische Perspektive fallen gelassen werden!

Insgesamt ist die Arbeit F.s über den Priester Pinhas als eine umfassende Darstellung zu dieser biblischen Figur und ihrer Rezep-tion sehr zur Lektüre zu empfehlen. Er bietet ein recht geschlossenes Lösungsmodell an, das für einen großen Teil der mit der Figur verbundenen offenen Fragen Lösungen anbietet, indem er eine klare Entscheidung zugunsten einer am Garizim orientierten Perspektive fällt. Dabei wird dieses Erklärungsmodell jeweils ausführlich in die aktuellen Diskurse zur Redaktionsgeschichte sowie zur Archäologie und Geschichte des antiken Israel eingeordnet. Eine übersichtliche Zusammenfassung (Kapitel 6: Synthese), Stellen-, Namen- und Sachregister erschließen das Buch.