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Ausgabe:

Juli/August/2023

Spalte:

690-692

Kategorie:

Altertumswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Wasserman, Nathan, and Elyze Zomer [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Akkadian Magic Literature. Old Babylonian and Old Assyrian Incantations: Corpus – Context – Praxis.

Verlag:

Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 2022. XXXII, 450 S. m. Abb. u. Tab. = Leipziger Altorientalische Studien, 12. Geb. EUR 89,00. ISBN 9783447117654.

Rezensent:

Rüdiger Schmitt

Dieser Band bietet eine Bearbeitung der verstreut publizierten magischen Texte aus Mesopotamien aus der ersten Hälfte des 2. Jt. v. Chr. und schließt zeitlich an Zomers Publikation A Corpus of Middle Babylonian and Middle Assyrian Incantations (LAOS 9 Wiesbaden: Harrassowitz Verlag, 2018) an.

Eine ausführliche Einleitung (1–61) widmet sich der literarischen und religionsgeschichtlichen Einordnung des Corpus, wobei die Verfasser betonen, dass eine Unterscheidung von Gebrauchs- und literarischen Texten für Mesopotamien nicht sinnvoll sei. Nach der Definition des Corpus und einem Überblick über die Herkunft der Tafeln, die aus den wichtigen urbanen Zentren Mesopotamiens stammen (aus dem Süden: Larsa und Umgebung; Zentralmesopotamien: Sippar, Kiš, Tell Duweihes, Nippur, Lagaba; Diyala-Region: Šaduppûm, Ešnunna, Nēreptum, Mēturan; Obermesopotamien: Kaneš, Mari; aus der Peripherie: Susa), folgt eine physische Klassifikation der hier präsentierten 134 Tafeln: Es handelt sich um 72 Tafeln mit nur einer Beschwörung, die wohl zu einem bestimmten Anlass oder für einen bestimmten Klienten verfasst worden sind und 55 Sammeltafeln (Akkadisch, Sumerisch, Akkadisch und Sumerisch, alloglott). 80 Tafeln weisen ein Portrait-Format auf, zehn ein längliches, 31 ein Querformat, acht sind quadratisch und eines in Form eines T-förmigen Amuletts (tabula ansata). Insbesondere bei letzterem (No. 162 im vorliegenden Corpus) sei es deutlich, dass diese für eine private Klientel angefertigt worden seien. Dasselbe sei auch für die Tafeln mit nur einer Beschwörung und ohne Anweisungen zum Prozedere zu vermuten. Durch den Fundkontext als für den privaten Gebrauch ausgewiesen ist eine Gruppe von Tafeln aus Kaneš (No. 31, 69, 160, 162, 169). Typisch für den privaten Gebrauch scheinen kleine Tafeln, die jeweils nur eine Beschwörung enthalten. Eine Tafel (No. 127) nennt explizit den Klienten (18). Bei den Sammeltafeln handelt es sich um formularische bzw. Referenz-Texte, die vermutlich aus einem curricularen Kontext stammen (19). Einige Texte (No. 117, 148, 177) stammen aus einem Schulkontext und bei den No. 4 und 182–183 handelt es sich aufgrund von Schreibfehlern und der kruden Schrift deutlich um Schultexte. Die Texte enthalten oft ein Rubrum (Varianten von tu6-én-é-nu-ru) am Anfang oder Ende oder ein Subscript zur Einordnung der Texte, während Kolophone im vorliegenden Corpus eher selten sind. Die Texte sind keine unmittelbaren Vorläufer der späteren kanonischen Beschwörungen; der Kanonisierungsprozess begann erst nach der altbabylonischen Zeit (12).

Für Wissenschaftler aus anderen Disziplinen besonders aufschlussreich sind die Bemerkungen der Verfasser zum von den Texten reflektierten modus operandi sowie zu den verwendeten literarischen Strategien (27–61). Während die Ritualspezialisten (ašipu/maš-maššu) des 1. Jt. v. Chr. eine offizielle Affiliation hatten, könne dies für die altbabylonische Zeit nicht evident gemacht werden. Deutlich sei nur, dass diese für private Konsultationen bezahlt worden seien. Ob die Ritualspezialisten schriftkundig waren und ihre eigenen Beschwörungen niederschrieben oder ob ein Schreiber dies erledigte, sei nicht ganz klar, jedoch deute die Zahl der Beschwörungen und die gelegentlich unsichere Handschrift einiger Texte darauf hin, dass diese schreiben konnten (28). Die Identität der Klienten ist zumeist nicht bekannt, obwohl einige Namen im Corpus überliefert sind (No. 127, 142, 143); thematisch (Geburt etc.) und grammatikalisch sind auch Frauen als Klienten nachgewiesen. Das Corpus enthält auch Beschwörungen für Tiere (No. 44). Überwiegend ist ein häuslicher Kontext für die Nutzung der Texte und die rituelle Durchführung anzunehmen. Texte aus administrativen bzw. »öffentlichen« Gebäuden waren vermutlich Referenz- und Schultexte, obwohl die Verfasser eine magische Nutzung in diesen Kontexten nicht ausschließen.

Die Durchführung der Rituale erfolgte wohl vorwiegend nachts (No. 84, 93, 94 u. a.) oder zu bestimmten Mondphasen (No. 148). Bedeutsam ist vor allen Dingen die Feststellung, dass das Corpus eine Bewirkung der Heilung durch die Gottheit (zumeist die mit Magie befassten Ea/Enki, Asalluḫi, Ningirim sowie Heilgottheiten) voraussetzt und die Rituale nicht als selbstwirksam erachtet wurden (38); hierzu gehört auch die göttliche Legitimierung des Ritualspezialisten nach dem Muster »Die Beschwörung ist nicht meine, es ist die Beschwörung von GN und GN«, der Rekurs auf göttliche Unterstützung sowie der aktualisierende Rückgriff auf das urzeitliche Geschehen in den Historiolae. Zudem werden die Ritualgegner durch promissorische Eide bei den Urgottheiten oder andere kosmische Entitäten (zi DN … ḫé-pà »Sei beschworen beim Leben von GN«) beschworen (No. 36, 55, 150, 166, 169) sowie bei Gottheiten mit Unterweltsbezug, wie Ištar und Dumuzi (No. 108). Auffallend an den Beschwörungen sei, dass diese sämtlich keine prophylaktischen Rituale enthalten, sondern ex post facto zur Anwendung kommen. Ebenso fehlt bei den magischen Prozeduren das Prinzip, Gleiches mit Gleichem zu bekämpfen (44). Zu den vom Beschwörer angewandten rituellen Strategien gehören die Äußerung von performativen Statements, wie Wünschen und Befehlen sowie der Vollzug von physischen Aktionen, zum Teil mit materia magica (Überschreiten, Binden, Verpacken, Werfen etc.), sowie indirekte Strategien, zumeist unter Mitwirkung der Götter, sowie das Eröffnen eines Auswegs für das Übel (44–49). Zu den literarischen Strategien zählen Alliterationen, Wortspiele, Wiederholungen, Stichworte, Aufzählungen, Chiasmus, feste Formeln etc. Eine besondere Bedeutung kommt hierbei den Historiolae zu, die das rituelle Geschehen an eine Urzeit zurückbinden und dadurch begründen.

Die Textedition (62–416) ist nach dem Anlass der magischen Prozeduren gegliedert: Krankheiten und andere medizinische Probleme (Gallenleiden: No. 1; Geburt: No. 2–14; Kinderkrankheiten: No. 15; Verdauungstrakt und innere Organe: No. 16–37; Gelbsucht: No. 38–39; Maškadu [möglicherweise Brucellose]: No. 40–42; orthopädische Probleme: No. 43; Pocken: No. 44; Gerstenkorn [meru]: No. 45; Zahnerkrankungen bzw. »Zahnwurm«: No. 46–48; andere bzw. »alle« Krankheiten [kala murê]: No. 49–60), Probleme mit Tieren (Hunde bzw. Tollwut: No. 61–75; Fischfang: No. 76; Fliegen und Bienen: No. 77–80; Ziegen: No. 81; Pflanzenschädlinge [hier: Equiden]: No. 82; Skorpione: No. 83–104; Schlangen und Reptilien: No. 105–112; »Würmer«: No. 113–115), durch Menschen verursachte Probleme (Zorn: No. 116–119; schreiende Babys: No. 120–124; Selbstermächtigung: No. 125–129; Liebe und sexuelle Attraktion: No. 130–143; persönliche Rivalität bzw. Prozess: No. 144–145; Hexerei: No. 146–149), übernatürliche Agenten (Böser Blick ausgehend von solchen: No. 150–157; Lamaštu: No. 158–165; Wardat-lilî: No. 166), unbelebte Materie und Objekte (Bitumen: No. 167; Speisen und Getränke: No. 168–169; Schilfrohr: No. 170) und unklare Anlässe/Varia (No. 171–175). Eine Textkonkordanz (S. XVII–XXI), eine Übersicht über die nicht berücksichtigten Texte (S. 417–419) und Indices (S. 435–443), ermöglichen eine schnelle Erschließung des Bandes.

Der Band schließt eine Lücke innerhalb der Publikationen mesopotamischer magischer Texte für die altbabylonische und altassyrische Zeit (ca. 2000–1500 v. Chr.) und bietet mit seiner ausführlichen Einleitung eine literarische und religionsgeschichtliche Einordnung der Texte, die auch für alle Forschenden auf dem Feld antiker magischer Literatur bedeutende Einsichten insbesondere im Hinblick auf den modus operandi magischer Texte bzw. Rituale liefert.