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Ausgabe:

Juli/August/2023

Spalte:

686-689

Kategorie:

Altertumswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Gawlick, Günter

Titel/Untertitel:

Cicero. Person und Lehre im Urteil der Jahrhunderte. Hg. v. L. Kreimendahl.

Verlag:

Stuttgart-Bad Cannstatt: frommann-holzboog 2022. 350 S. = Quaestiones, 19. Lw. EUR 128,00. ISBN 9783772829451.

Rezensent:

Hubert Cancik

Das letzte Buch von Günter Gawlick (1.3.1930/Königsberg bis 26.8.2022/Witten) ist in der gediegenen Ausstattung der von Eckehart Holzboog herausgegebenen Reihe »Quaestiones. Themen und Gestalten der Philosophie« erschienen. Es enthält vier Erstveröffentlichungen, fünf Texte in revidierter und erweiterter Fassung, eine »Kurzbibliographie« (309–311), ein Personenregister, kein Register der Begriffe und Stellen, keine Werbung, aber großzügig Raum für eigene Notizen.

Der Titel soll einen epochalen Vorläufer erinnern, den ukrainisch-russisch-polnisch-deutschen Philologen Thaddäus (Faddej) Zielinski (1859/bei Kiew – 1944/Schondorf, Bayern) und seinen Klassiker: »Cicero im Wandel der Jahrhunderte« (zunächst Vortrag in St. Petersburg, 1895, russisch). Die Einschränkung auf »Urteil« erlaubt es, die Cicero-Memoria der Handschriften auszuschließen, die Tradierung in den Lehrplänen von Schule und Hochschule, die antike und nachantike Ikonographie, die modernen Cicero-Romane.

Das dominierende Interesse ist die Geschichte der (west-)euro-päischen Skepsis, die natürliche Religion und der Deismus, die Verdammungen (Theodor Mommsen) und Rettungen (August Horneffer) Ciceros, seines Charakters und seiner Philosophie, weniger seiner Politik, seiner Reden und Rhetorik, nicht seiner Übersetzungen und Dichtungen. Das Ziel ist, »ein anderes Cicerobild« (82 f.) zu zeigen und die Verwurzelung Ciceros im »kulturellen Gedächtnis« (150).

Günter Gawlick hat Philosophie, Latinistik und Anglistik studiert und wurde 1956 mit der Dissertation »Untersuchungen zu Ciceros philosophischer Methode« bei Walter Bröcker (Kiel) promoviert. M. Tullius Cicero (30.01.106/Arpinum–7.12.43 v. Chr./auf der Flucht) wurde sein Lebensthema. In zahlreichen Artikeln und Rezensionen zur Cicero-Forschung, von denen nur wenige in diesen Band aufgenommen und die in der o. g. Kurz-Bibliographie nicht nachgewiesen sind, hat G. die drei Übersichten, die den Band eröffnen, vorbereitet (vgl. Uta Golembek, Bibliographie Günter Gawlick 1956–1993, in: Lothar Kreimendahl [Hg.], Studien zur Philologie und Geistesgeschichte des 17. und 18 Jahrhunderts, Stuttgart–Bad Cannstatt 1995, 303–310). Wichtig wurde ihm die Zusammenarbeit mit dem klassischen Philologen Woldemar Görler (4.10.1933–28.4.2022), mit dem er den Artikel »Cicero« für den »Grundriss der Geschichte der Philosophie« (1994) verfasste (G. Gawlick/W. Görler, Cicero, in: Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie der Antike, begründet von F. Überweg, hg. von H. Flashar, Bd. 4,2, Basel 1994, 1084–1118).

Seit Zielinskis Klassiker hat zwar die allgemeine Bedeutung Ciceros abgenommen, die gelehrte Arbeit an seinen Texten und der »Kultur der ciceronischen Zeit« (Wilhelm Kroll) dagegen hat zugenommen und die Erschließung seiner Wirkung in der europäischen Nachantike. Nur drei Beispiele seien genannt:

Den Zugang zu der diffizilen Korrespondenz Ciceros hat Cyril Bailey erleichtert; die gewaltsame Transformation der römischen Republik in eine »Prinzipat« genannte hellenistische Monarchie wurde durch akribische Prosopographie der Akteure und ihrer Verbindungen gefördert (Friedrich Münzer, Ronald Syme); die Rekonstruktion von civic spirit und civic humanism hat die Bedeutung von Ciceros politischen Reden und Theorien für die italienische Renaissance und durch sie für die europäische Neuzeit sichtbar gemacht (H. Baron, 1938/1988). Der Forschungsstand speziell zur Wirkung bzw. Rezeption Ciceros sei wenigstens durch den Hinweis auf die Arbeiten von R. Chevallier, A. Eusterschulte und G. Frank, M. Landfester, Catherine Steel angedeutet.

Zwei Übersichtsartikel stehen am Anfang der Buches: »Die Vielfalt der Cicero-Memoria« und »Cicero Philosophus«. Sie informieren (a) über die Stoffwahl – Schwerpunkte sind Philosophie und Theologie; (b) über Grundbegriffe – »Memoria« (weiter als »Rezeption«), »Orte der Erinnerung« (z. B. Wissenschaft), über den »Gesamtkomplex Cicero« (15) von der Antike bis zur Gegenwart, aber auch über das Cicero-Bild des Autors. Die Übersichten sind für diesen Band geschrieben und bilden den weit gefassten Rahmen für die folgenden Studien.

Der dritte Übersichtsartikel – »Cicero, eine antike Säule des Deismus« (2013) – skizziert in chronologischer Folge die Cicero-Rezeption der Deisten (besonders Cicero, »Über das Wesen der Götter« und »Über Weissagung«), von Pierre Viret (2. Hälfte 16. Jh.) bis J. Christoph Gottsched (Mitte 18. Jh.). Dieser Artikel markiert die thematische Mitte des Buches: die Frage nach der Heils-Suffizienz der »natürlichen Religion« gegenüber dem Anspruch der positiven (gesatzten), dogmatischen Konfessionen.

Die Artikel IV bis VIII bringen Studien zur Cicero-Rezeption der Renaissance und Aufklärung: (a) das Nachleben von Ciceros Ausruf: nihil tam absurde dici potest; (b) Ognibene da Longio, Filippo Beroaldo, Marcus Maioragius über den Wert der Rhetorik; (c) Ortensio Lando und Sebastiano Corrado über die Person Cicero; (d) Pierre Petit und Herny Dodwell d. Ä. über Cicero als Philosoph; (e) eine »Bestandsaufnahme« über die Präsenz Ciceros im Werk von Pierre Bayle; Anhang: August Horneffers (1875–1955, eines Nietzscheaners) Verteidigung Ciceros gegen den Angriff von Theodor Mommsen (Cicero: »Journalistennatur«).

Die Darstellung ist meist ein chronologisch fortlaufendes Narrativ mit kurzen Charakteristiken der Personen, längeren Paraphrasen und ausgiebigen, vorzüglich nachgewiesenen lateinischen Zitaten.

1. Die Rezeption der verschiedenen Teile des »Cicero-Komplexes« verläuft, das lehren Gawlicks Studien, in unterschiedlichen Formen. Reden und Rhetorik sind breit überliefert, gesichert durch stabile Institutionen: Schule und Hochschule. Die Überlieferung der Staatsschriften ist prekär. Das fundamentale Werk »Über den Staat« (de re publica) hat lediglich in Fragmenten überlebt: Ein spätantiker Kommentar (Macrobius zum »Traum des Scipio«), die Benutzung durch Augustin (de civitate dei) und Stücke eines Palimp- sests. Die kontinuierliche Tradierung Ciceros im Bildungswesen kann durch eine Sprung-Rezeption überholt werden, wenn etwa statt Ciceros Dialogen und Paraphrasen die platonischen Dialoge und seine stoischen Quellen entdeckt werden. Die Stimulus-Diffusion verteilt desintegrierte Stücke in Florilegien und Sammelwerken (Isidor, Enzyklopädie; Bayle, Dictionnaire), oft ohne die Herkunft zu kennzeichnen (indirekte Wirkung). Die Übersetzungen beginnen neue Traditionslinien; sie konnten aus Cicero selbst begründet werden, der ja die griechische Philosophie übertragen, romanisiert und auf Latein der römischen Welt vermittelt hat.

Völlig richtig hat G. festgestellt, dass Ciceros Philosophica prinzipiell »eklektisch« rezipiert worden (34) und »alle seine Differenzierungen [...] in der Rezeption so gut wie verschwunden« sind. Die verfehlte (falsche) ist eine wichtige Form der Rezeption, wobei nicht jedes Missverständnis kreativ wirkt. Die Gefahren einer verfrühten Rezeption (Schule) hat G. nur punktuell mit wenigen Zitaten und Anekdoten vorgeführt, etwa die Erkenntnis J. Christoph Gottscheds (1742), dass die weit verbreitete Ethik Ciceros (Über die Pflichten/de officiis) für die Schullektüre ungeeignet sei (69).

2. Die Konzentration auf die »Person« Cicero und das »Urteil« der Nachwelt, die G. in diesem Band vornimmt, ist angesichts der Fülle des Stoffs und des Forschungsstandes verständlich und berechtigt. Die Folgen dieser Beschränkung werden jedoch nicht ausreichend verdeutlicht. Denn jede Rezeption geschieht in einem Kontext: Ergänzende Traditionen stützen, rivalisierende können einen Autor verdrängen. Auch die Cicero-Rezeption ist immer eingebettet in die Antike-Rezeption eines Gelehrten, eines Schülers, eines Philosophen. Drei Beispiele müssen genügen.

a) John Toland (1670–1722) hat zur Konstitution einer pantheistischen Gemeinde gewiss Grundsätze und Moral aus Cicero übernommen. Sie wird jedoch gestützt von der poetischen Moralistik des Horaz und von der memoria antiker Gemeinschaftsbildungen in Wissenschaft und Kunst, Philosophie und Religion. An sie schließt Toland seine »Sodalität« an. Dieser Kontext der Cicero-Rezeption wird bei Gawlick (103–106) nicht sichtbar.

b) Pierre Bayle’s »Dictionnaire« (1697) enthält etwa 2100 Artikel; »in mehr als 300« davon wird Cicero zitiert (245): Ist das viel – im Vergleich zur Bibel oder zu Platon?

c) Die Abwertung Ciceros (291 ff.) in Deutschland wird nicht verständlich, wenn nicht der Aufstieg griechischer Sprache, Literatur, Kunst in Renaissance, Reformation und dem deutschen Philhellenismus (Winckelmann, Goethe, Hölderlin) als Kontext angegeben ist.

Nur wenn das Feld, in dem Cicero rezipiert wird, wenigstens im Umriss kenntlich wird, kann das Gewicht, die einzigartige Größe, die »immense Wirkung« der Cicero-Tradition abgeschätzt werden. Ohne diesen Maßstab bleibt es bei eindrücklichen Selbstbekenntnissen, moralischem Tadel oder Versuchungen zur Heiligsprechung des verehrten Klassikers (29 f.: Quaestio de salute Ciceronis; 110 f.).

1. Die Nachwelt konnte bei Cicero finden: die Lehren der griechischen Philosophien, ihre Widerlegung, den skeptischen Vorbehalt (Zweifel); ein Lehrbuch der Rhetorik, die Geschichte dieser Kunst und ausgewählte Reden; Natur und Vernunft, Naturrecht und natürliche Religion; ein Religionsrahmengesetz (Über die Gesetze, Buch II), die Kritik von Aberglauben und staatstragender Weissagung; eine bürgerliche Sittenlehre mit den Kardinaltugen-den, der Persona-Lehre, einem universalen Begriff von Mensch/Menschheit/»Menschenwürde« und den humanitären Pflichten. Das »Urteil« der Nachwelt – Fortschreibung, Ablehnung, Unverständnis – hat G. zuverlässig, in Auswahl, dargestellt.

Aber es gab noch Briefe, geschäftliche, dienstliche und persönliche, an die Gemahlin, den Bruder, an Sohn und Tochter, an einen geschäftstüchtigen Freund und an Tiro, den treuen Sklaven. Sie zeigen die Person des glänzenden Redners, toleranten Philosophen und tatkräftigen Magistrats: einen Gatten, Vater, Geschäftsmann in schwierigen Situationen – ängstlich, schwach, hasserfüllt, in Tränen gar. Die Nachwelt beurteilt Charakter und Verhalten dieser Person im Hochgefühl moralischer und religiöser Überlegenheit, entschlossen apologetisch oder vermittelnd.

G. referiert einige Positionen, übernimmt selbst die These von Cicero dem »Märtyrer für Republik und Freiheit« (1.14.17 f.) – ein furchtbares Missverständnis. Denn Cicero wurde »legal« exekutiert als Anstifter eines Bürgerkriegs und Befürworter der Ermordung Caesars. Ciceros Briefe – bei G. nicht berücksichtigt (268 f.) – jubeln über den Mord und bedauern, dass er nicht persönlich anwesend sein konnte – er hätte reinen Tisch gemacht. Auch gelehrte und gut gemeinte Apologetik verfehlt die »Gestalt« des M. Tullius Cicero. Das Profil einer komplexen Person in einer frühmodernen, hoch gefährdeten, instabilen Gesellschaft wird vom allgemeinen Lob eher verdeckt, die Spannungen verharmlost. Cicero – der Zivilist als Militär, der so gern Triumphator geworden wäre; der Friedensstifter (im Konflikt zwischen Pompeius und Caesar) und Brandstifter (im Konflikt zwischen Octavian und Antonius); der Hellene in der Toga; der beamtete Augur, der als Religionsphilosoph Weissagung als Aberglauben entlarvt; der homo novus, der die alte Aristokratie verteidigt.

G.s »Cicero« bietet drei großflächige Übersichten über die Cicero-Rezeption in (West-)Europa, bietet sensible Charakteristik von Ciceros Werk – »das Ganze seiner Philosophie, dieses fragile Gebilde aus skeptischer Zurückhaltung bei metaphysischen Urteilen und entschiedener Zustimmung bei moralischen Urteilen«, lehrreiche Lesefrüchte aus wenig bekannten Autoren – Zeugnisse eines langen Lektürelebens. Er bietet vorzügliche bibliographische Nachweise gerade auch älterer Autoren, nützliche Zitate, leider auch »straffende Übersetzung« (152) und arme »Heiden« (38–40).

Cicero wird als kulturgeschichtliches Ereignis (Studie I), als europäisches Phänomen (allerdings ohne Polen, Tschechien, Ungarn) sichtbar (33, Anm. 2), verwurzelt in unserem »kulturellen Gedächtnis« (150). Ein neues, anderes Cicero-Bild jedoch kann aus einer Rezeptionsgeschichte allein, auch aus einer kritischen, nicht entwickelt werden: »Es bleibt also viel zu tun« (83).