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Ausgabe:

Juli/August/2023

Spalte:

683-686

Kategorie:

Altertumswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Alkier, Stefan [Hg.]

Titel/Untertitel:

Konstellationen antiker Tempelwirtschaft. Neue Perspektiven auf den Tempel am Garizim, den Jerusalemer Tempel und das Artemision in Ephesos.

Verlag:

Paderborn: Brill: Schöningh 2022. XVI, 368 S. = Beyond Historicism – New Testament Studies Today, 2. Geb. EUR 109,00. ISBN 9783506793584.

Rezensent:

Michael Tilly

Sowohl der Jerusalemer Tempel und das Heiligtum der Samaritaner am Garizim als auch der Artemistempel in Ephesos wurden in der Antike als zentrale Kultorte mit überregionaler religiöser, politischer und wirtschaftlicher Bedeutung wahrgenommen. Der vorliegende Band, der die Beiträge einer (pandemiebedingt nicht realisierten) interdisziplinären und multiperspektivischen Tagung an der Goethe-Universität in Frankfurt/Main enthält, zielt mittels der Analyse und Interpretation relevanter Merkmale, Kontexte und Bedeutungsaspekte dieser drei Tempelanlagen im Spiegel der verfügbaren archäologischen, epigraphischen und literarischen Quellen auf eine »vergleichende, miteinander kooperierende, regional informierte und überregional interessierte Tempelforschung« ab (xiv).

Die Beiträge des ersten Hauptteils fokussieren das Zentralheiligtum der samaritanischen Religionsgemeinschaft. Jürgen K. Zangenberg (23–57) bietet einen ausführlichen Einblick in die aktuelle Forschungslage und Diskussion um seine Entstehung, Entwicklung und Bedeutung. Er betont dabei zum einen, dass seine Errichtung kaum als Ausdruck der kultischen Konkurrenz einer »häretischen« priesterlichen Gemeinschaft gegenüber dem Jerusalemer Tempelkult und seinen Funktionären oder gar als Zeichen der Selbstbehauptung einer »ursprünglich orthopraxen« Splittergruppe zu bewerten sei, und zeigt zum anderen auf, dass die erhaltenen Baudenkmäler und Inschriften auf eine selektive Rezeption und Applikation auch hellenistischer Formen und Inhalte sowie auf eine hohe Relevanz regionaler Vernetzungen der »local Gerizim elite« (53) hindeuten. Jonathan Jakob Böhm (58–84) setzt sich ebenso umfassend wie kritisch mit der These vom Pentateuch als Kompromissprodukt zwischen Garizim und Zion im religionsgeschichtlichen Kontext einer »pluriformen und plurizentrischen JHWH-Religion« auseinander (58). Kennzeichnend für diese These seien die Wahrnehmung des samaritanischen JHWH-Kultes als Bestandteil eines vielschichtigen religiösen, kulturellen und gesellschaftlichen Identitätsbildungsprozesses und die Annahme der Beteiligung samaritanischer JHWH-Verehrer an der Komposition des Pentateuchs im Sinne von »aktiven Rezipienten« (76).

Benedikt Hensel (85–123) präsentiert eine gründliche Durchsicht des perserzeitlichen und hellenistischen epigraphischen Befundes vom Berg Garizim. Es lasse sich zeigen, dass erstens die Existenz eines ummauerten und überdachten Tempelgebäudes wahrscheinlich ist, dass zweitens sämtliche Quellen auf ein »judäisch-samaritanisches Kultkontinuum« hindeuten (116), und dass drittens die Vorstellung einer Auseinandersetzung mit Jerusalem um die Legitimität des eigenen dissidenten Kultortes nicht hinreichend belegt werden kann: »In der nach-exilischen Zeit existierten im palästinischen Kernland zwei unterschiedlich nuancierte Ausformungen des JHWH-Glaubens in Juda und in Samaria, die nicht identisch, aber sehr nah miteinander verwandt waren.« (117)

In Martina Böhms Beitrag (124–144) geht es um die ökonomische Bedeutung des Garizimheiligtums. Angesichts der mageren Quellenlage ließen sich nur wenige belastbare Aussagen treffen: So dokumentierten einige Weihinschriften finanzielle Zuwendungen einer samaritanischen (westlichen) Diaspora. Der Standort des Heiligtums selbst sei indes nicht nach wirtschaftlichen Aspekten oder Faktoren ausgewählt. Denkbar sei sowohl die Notwendigkeit einer gemeinsamen Abstimmung der Priesterschaften in Jerusalem und auf dem Garizim mit der persischen Provinzverwaltung als auch die administrative Wahrnehmung des samaritanischen Tempels und seines unmittelbaren Umlands als eigener Distrikt. Seit dem 3. Jahrhundert v. Chr. sei das Kultzentrum der samaritanischen Religionsgemeinschaft – insbesondere durch einen erheblichen Einkommensüberschuss aufgrund des florierenden Pilgerbetriebs – zu einem gewichtigen ökonomischen Faktor geworden, dessen hohe regionale Bedeutung erst mit seiner Zerstörung unter Johannes Hyrkan I. zu einem abrupten Ende kam.

Der zweite Hauptteil enthält Beiträge zur Tempelanlage in Jerusalem. Holger Siegel (147–164) skizziert zunächst die moderne archäologische Erforschung des Tempelareals und setzt deren Befunde sodann mit einigen literarischen Beschreibungen des Jerusalemer Heiligtums in Beziehung. Andreas Schüle (165–185) setzt sich mit unterschiedlichen literarischen Imaginationen und theologischen Reflexionen des Tempels von Jerusalem in der Hebräischen Bibel auseinander. Zu beobachten sei hierbei eine allmähliche Verschiebung weg von seiner Wahrnehmung als mythischer Zentralort im Sinne einer kosmischen »Weltenachse« (183) und hin zu seiner Bedeutung als Imaginationsraum der unmittelbaren Kommunikation zwischen Gott und Volk.

In Friederike Schöpfs hilfreicher Zusammenstellung und Auswertung sämtlicher Jerusalemer Tempelinschriften (186–217) spiegelt sich zum einen die lange Baugeschichte und die religiöse Bedeutungsentwicklung des Tempelgebäudes wider und lässt sich zum anderen erkennen, dass die epigraphischen Texte bis 70 n. Chr. vor allem institutionelle (offizielle und religiöse) Funktionen dokumentierten, während nach der Tempelzerstörung nur noch private Kontexte (Bitten, Segenswünsche, Gebete) im Vordergrund standen.

Wolfgang Zwickel (218–245) unternimmt einen diachronen Längsschnitt hinsichtlich wichtiger wirtschaftlicher Gesichtspunkte des Tempelkults in Jerusalem (z. B. Baumaßnahmen, Ausstattung und Renovierung des Tempelgebäudes, Kosten für Opfergaben, Priesterbezahlung). Nacheinander behandelt werden dabei die Tempelwirtschaft in der Umwelt des Alten Testaments, die Situation im vorexilischen Israel und Juda, die Perserzeit (hier finden insbesondere die unterschiedlichen Arten von Opfergaben für den Tempel Erwähnung), die ptolemäische, seleukidische und hasmonäische Epoche sowie die Zeit der Römerherrschaft. Während der Kult anfangs als »Privatsache« des Königshauses ausgeübt wurde, habe sich sein Vollzug in nachexilischer Zeit bald zu einem »gesellschaftlich relevanten und den Staat stabilisierenden Geschehen« (242) entwickelt.

Der dritte Hauptteil des Buches thematisiert das ephesische Artemision. Lilli Zabrana (249–273) befasst sich mit der religions- und wirtschaftshistorischen Bedeutung des ausgedehnten heiligen Bezirks um den monumentalen Artemistempel in der römischen Metropole an der kleinasiatischen Westküste. Zur Sprache kommen der territoriale Umfang sowie die räumliche und bauliche Ausgestaltung des Temenos, die (auch in Apg 19,23–40 erwähnte) Produktion von Votiven und Weihegeschenken, der Rechtsstatus des ephesischen Asyls und schließlich die Aufgabe und der Verfall des Heiligtums der Artemis Ephesia seit dem ausgehenden 4. Jahrhundert n. Chr.

Verena Fugger (274–300) zeichnet den durch die fortschreitende Christianisierung Kleinasiens ausgelösten und durch Naturkatastrophen (Erdbeben) und Kriege (Einfall der Goten) beeinflussten städtebaulichen Transformationsprozess in der Hauptstadt der Provinz Asia nach, der seinerseits eine maßgebliche Veränderung der religiösen Identität ihrer Bewohner widerspiegelt. Während seit 313 n. Chr. der politische Druck auf pagane Kulte und ihre Kultstätten mit einer Schwächung ihrer wirtschaftlichen Basis einherging, sei der monumentale justinianische Neubau des Heiligtums des Ioannes Theologos in Ephesos in frühbyzantinischer Zeit zum wichtigsten Wallfahrtsort Anatoliens geworden.

Simon Dittmann (301–319) arbeitet heraus, wie das Artemision als »implizite, textimmanente Größe« in der Literatur der griechischen und römischen Antike dargestellt wurde (302). Besonders bemerkenswert sei hierbei die Verbindung der Tempelgründung mit dem (positiv konnotierten) Amazonenmythos.

In Thomas Paulsens Beitrag (320–340) geht es um den Status des ephesischen Artemistempels als eines der sieben Weltwunder der Antike: »Er war der größte Tempel der griechischen Welt, mit ungeheurem Aufwand und größter technischer Leistungsfähigkeit unter Beteiligung der berühmtesten Künstler ihrer Zeit errichtet« (336).

Im kurzen Epilogteil reflektiert zunächst Kai Ruffings wissenschaftlicher Essay zur öffentlichen Bautätigkeit im Kontext römischer Herrschaftsrepräsentation (343–356) deren hohe Bedeutung für die Imperatoren sowohl zur Affirmation ihrer politischen Machtstellung als auch zur Stabilisierung und Ausgestaltung vertikaler sozialer Beziehungen.

Hartmut Leppin (357–366) steuert schließlich ein konzises Plädoyer für eine weitere intensive Befassung mit der vergleichenden Erforschung antiker Tempel in ihren kulturellen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Kontexten bei. Angefügt ist ein Verzeichnis der beteiligten Autoren (367 f.). Ein Literaturverzeichnis sowie Register der Stellen, Orte und Sachen fehlen.

Bei der Lektüre der Beiträge des instruktiven Sammelbandes erlangt der Leser zum einen immer wieder wertvolle Einblicke in den aktuellen Forschungsstand im Hinblick auf drei überaus bedeutende antike Tempelanlagen. Zum anderen ermöglichen der übergreifende kultur- und religionsvergleichende Ansatz und die Berücksichtigung der regionalen politischen und ökonomischen Vernetzung dieser drei Kultorte wichtige Erkenntnisse für die Erhellung der pluriformen Geschichte und Religion im antiken östlichen Mittelmeerraum.