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Ausgabe:

Juni/2000

Spalte:

641–643

Kategorie:

Autor/Hrsg.:

Haspel, Michael

Titel/Untertitel:

Politischer Protestantismus und gesellschaftliche Transformation. Ein Vergleich der Rolle der evangelischen Kirchen in der DDR und der schwarzen Kirchen in der Bürgerrechtsbewegung in den USA.

Verlag:

Tübingen: Francke 1997. 376 S. gr.8. Kart. DM 96,-. ISBN 3-7720-2179-4.

Rezensent:

Ricardo Willy Rieth

Die Arbeit, 1995 als Dissertation vom Fachbereich Evangelische Theologie der Marburger Universität angenommen, vergleicht zwei völlig verschiedene kirchliche und gesellschaftliche Situationen: die Situation der evangelischen Kirchen vor und während der Wende in der DDR 1989/90 und die "Black Church" unter Führung von Martin Luther King Jr. in der nordamerikanischen Bürgerrechtsbewegung der 1950/60er Jahre. Bei diesen Kirchen handelt es sich um zwei der wenigen Exempel für protestantische Kirchen, die aktiv die Veränderung von ungerechten Strukturen und die Abschaffung von Unterdrückung unterstützten.

Die Untersuchung will "die jeweiligen Bedingungen der Möglichkeit des kirchlichen Handelns im Rahmen der beiden thematisierten Beispiele auf[zu]klären". Mit der Herausarbeitung der Bedingungen des kirchlichen Handelns neben seinem Einfluss auf die Transformationsprozesse lassen sich Aussagen darüber treffen, "unter welchen Umständen protestantische Kirchen an emanzipativen Transformationsprozessen in bestimmten modernen Gesellschaften erfolgreich partizipieren können" (13). Theoretisch geht der Vf. vom soziologischen Grundkonzept der gesellschaftlichen "Modernisierung" mit ihren jeweiligen Prozessen aus, die auf Grund der funktionalen Differenzierung von Gesellschaften (N. Luhmann) verstanden werden. Darüber hinaus werden die nordamerikanische und die ostdeutsche Gesellschafte in ihrer Entwicklung als moderne Gesellschaften mit Hilfe der Unterscheidung von "System" und "Lebenswelt" (J. Habermas) interpretiert.

Im ersten von insgesamt drei Teilen werden die Gesellschaft in der DDR, die Stellung der evangelischen Kirchen und der damit verbundene Zusammenhang zwischen theologischer Reflexion und gesellschaftlichem Handeln thematisiert. Entscheidend ist die Frage, inwieweit die gesellschaftliche Modernisierung aus der Perspektive von Kirche und Theologie als "Säkularisierung" begriffen wurde. Der zweite Teil, den schwarzen Kirchen im Süden der Vereinigten Staaten gewidmet, hat denselben Aufbau. Im Unterschied zum ersten Teil wird hier nicht die Theologie im breiteren Rahmen (speziell im Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR), sondern die Theologie eines einzigen Vertreters (Martin Luther King, Jr.) untersucht. Es wird exemplarisch dargestellt, wie der Friedensnobelpreisträger "das gesellschaftliche System der Segregation als Ausgangspunkt seiner Überlegungen wählt und besonders auf die durch Urbanisierung gekennzeichnete Situation der Afro-Amerikanerinnen und Afro-Amerikaner rekurriert" (234).

Im dritten Teil folgt der Vergleich der Rolle der "Black Church" und des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR bei der gesellschaftlichen Transformation. Es wird festgestellt, dass die Veränderungen der gesellschaftlichen Strukturen in der DDR und im Süden der USA im allgemeinen Modernisierungsprozess der Industrienationen begründet sind. In beiden Gesellschaften bildeten sich Formen von segmentierender und stratifizierender Differenzierung aus. Die "Lebenswelt", verstanden als "das Wissen, das in einer Gesellschaft den Handelnden immer schon zur Verfügung steht, und das sie in je neuen Situationen hinsichtlich seiner Geltung thematisieren können" (51), wurde der Kolonialisierung durch die Imperative des Systems - d. h. die unter der Kontrolle der Parteiführung der SED bzw. der weißen Elite in den USA liegende Steuerungsmedien "Macht" und "Geld" - unterstellt. In dieser Situation waren die Kirchen die einzigen vermittelnden Institutionen in einem abgetrennten Gesellschaftsbereich und dienten dem sozialen Zusammenhalt und der politischen Willensbildung.

In beiden Fällen kam es zu einer Kontextualisierung der Theologie als Reaktion auf die mit dem Prozess der Modernisierung verbundene Säkularisierung. Damit findet nicht notwendig ein Rückgang religiöser Phänomene in der Gesellschaft statt, obwohl dies in der DDR auf Grund der atheistischen Propaganda und der kirchenfeindlichen Politik der Fall war. In der "Black Church" dagegen wuchs die Mitgliederzahl vor allem infolge der Urbanisierung, die zusammen mit der Säkularisierung im Modernisierungsprozess das gesamte Umfeld der Afro-Amerikaner umwandelte.

Gesellschaftliche Transformationen forderten die Kirchen heraus. Grundlegend dafür waren die Modernisierungshemmnisse, die langfristig zu ökonomischem Rückstand in der DDR und im Süden der Vereinigten Staaten gegenüber Konkurrenten auf dem Weltmarkt führten. Für die DDR waren die Reformen in der UdSSR ab 1985 entscheidend. In den USA spielte die Wanderung von zahlreichen Afro-Amerikanern in den Norden eine große Rolle. In diesem Rahmen waren die jeweiligen Protestbewegungen notwendig auf die Ressourcen und Strukturen der Kirchen angewiesen. Ihre Bereitstellung setzte voraus, dass die Kirchen über diese Ressourcen verfügten und bereit waren, sie den Protestbewegungen zur Verfügung zu stellen. Darüber hinaus stellten die Kirchen in beiden Fällen außer dem erheblichen Teil der Massenbasis auch einen bedeuteten Anteil des Führungspersonals. In der DDR war dies der Fall zumindest in der Anfangsphase der Bewegung. In Anlehnung an A. Gramsci bezeichnet der Vf. die Pastoren, die eine führende Rolle spielten, als "organische Intelektuelle", weil sie "über eine überdurchschnittliche strategische und analytische Kompetenz verfügten" und "in Einklang mit den Interessen der Basis agieren und diese Interessen stellvertretend formulieren konnten" (321).

Sowohl für die Entstehung als auch für die Kontinuität der Protestbewegungen war der Beitrag der Kirchen eine notwendige Bedingung. Erst auf Grund von extrinsischen Faktoren - der Modernisierung, den segmentären Differenzierungsstrukturen, den Veränderungen im gesamtpolitischen Kontext - seien die gesellschaftliche Transformationsprozesse und die besondere Rolle der Kirchen möglich geworden. In Verbindung damit sollten die intrinsische Faktoren - die institutionelle Integrität der Kirchen und insbesondere der in ihrer Mitte entstandene Prozess der kontextualisierten theologischen Reflexion - verstanden werden.

Am Schluss werden auf Grund der unternommenen Analyse einige "sozialethische Perspektiven" dargestellt. Unentbehrliche Grundlage jeglicher theologischer Kontextualisierung sei eine theologische Gesellschaftstheorie. Insbesondere sollte sie die Säkularisierung auf eine Weise erklären, die die Anschlussfähigkeit der evangelischen Verkündigung unter den Kommunikationsbedingungen der modernen Gesellschaft sichere. In ihrem sozialethischen Programm sollte die Kirche auf die Erhaltung lebensweltlicher Kommunikation abzielen. Dafür müsste sich eine politische Ethik bilden, die auf der gesellschaftstheoretischen Unterscheidung von "System" und "Lebenswelt" begründet ist. Hierzu könnte die von Luther vertretene Unterscheidung der beiden Reiche und Regimente beitragen.

Mit seiner Untersuchung bietet der Vf. eine auf seriöser und sorgfältiger Quellenerforschung basierende Darstellung von zwei sehr wichtigen Momenten kirchlicher Zeitgeschichte an. Die ausgewählten Kategorien für die gesellschaftstheoretische Interpretation dienen zweifellos der guten Systematisierung des Gesamtmaterials. Als wichtig für die heutigen Christen und Kirchen zeigt sich vor allem die Feststellung, dass die kontextuellen Theologien beider Kirchen ein großes emanzipatorisches Potential repräsentierten, "weil die Botschaft des Jesus von Nazareth so formuliert wurde, dass die Verkündigung des Heils und die sozialethische Forderung nach dem Wohl der Menschen im gesellschaftlichen Kontext für eine große Öffentlichkeit zu einer Botschaft konkreter Hoffnung wurde" (331).