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Ausgabe:

Mai/2023

Spalte:

530-533

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Ratzinger, Joseph

Titel/Untertitel:

Der Gott des Glaubens und der Gott der Philosophen. Philosophische Vernunft – Kultur – Europa – Gesellschaft. Erster Teilbd. M. e. Vorwort v. R. Schönberger. = Joseph Ratzinger Gesammelte Schriften, 3/1.

Verlag:

Freiburg i. Br. u. a.: Verlag Herder 2020. 576 S. Lw. EUR 65,00. ISBN 9783451335969.

Rezensent:

Gunther Wenz

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Ratzinger, Joseph: Der Gott des Glaubens und der Gott der Philosophen. Philosophische Vernunft – Kultur – Europa – Gesellschaft. Zweiter Teilbd. M. e. Vorwort v. R. Schönberger. Freiburg i. Br. u. a.: Verlag Herder 2020. 496 S. = Joseph Ratzinger Gesammelte Schriften, 3/2. Lw. EUR 65,00. ISBN 9783451389979.
Ratzinger, Joseph: Herkunft und Bestimmung. Schöpfungslehre – Anthropologie – Mariologie. Freiburg i. Br. u. a.: Verlag Herder 2022. 632 S. = Joseph Ratzinger Gesammelte Schriften, 5. Lw. EUR 80,00. ISBN 9783451386053.


Ein knappes Jahrzehnt vor seinem Tod kündigte Papst Benedikt XVI. am 11. Februar 2013 bei einem Kardinalkonsistorium in Rom an, sein Amt als Nachfolger Petri zum Ende des Monats aus Altersgründen niederlegen zu wollen. Ein päpstlicher Amtsverzicht aus freien Stücken ist zwar nach Can. 332 § 2 des CIC kirchenrechtlich vorgesehen, doch abgesehen vom Fall Coelestins V., der schon geraume Zeit zurückliegt, ein historisches Novum gewesen. Die Reaktionen auf die überraschende Verzichtserklärung fielen erwartungsgemäß unterschiedlich aus, nicht zuletzt in der deutschen Presse. Während die FAZ vom 12.02.13 die Demission als »Fanal moderner Amtsführung« (25) deutete, gab sich die SZ unter demselben Datum eher kritisch: »Die Kirche war selten so reformbedürftig wie am Ende des Pontifikats von Benedikt XVI.« (4), schrieb Heribert Prantl unter der fragwürdigen Überschrift »Stellvertreter Gottes a. D.«. Über die geschichtliche Bedeutung von Joseph Ratzinger als Papst Benedikt XVI. werden Kirchenhistoriker und säkulare Historiographen zu befinden haben. Sein Rang als Theologe hingegen steht heute schon fest und ist auch von denen anzuerkennen, die seine Auffassungen nicht oder jedenfalls nicht vorbehaltlos teilen, wie das unter Protestanten üblich sein dürfte.

Die wichtigsten theologischen Werke R.s werden seit 2008 in einer 16-bändigen Buchreihe von Kurienkardinal Gerhard Ludwig Müller und vom Regensburger Institut Papst Benedikt XVI. nach Schwerpunktthemen geordnet herausgegeben. Der erste Band (2011 erschienen) enthält die 1951 verfasste Dissertation über »Volk und Haus Gottes in Augustins Lehre von der Kirche« und weitere Studien zu Augustinus und zur Theologie der Kirchenväter, der zweite von 2009 die vollständige erste Fassung der Habilitationsschrift über »Das Offenbarungsverständnis und die Geschichtstheologie Bonaventuras« von 1955 und weitere Bonaventurastudien. Das wohl bekannteste Werk R.s aus seiner Zeit als Professor, die »Einführung in das Christentum« anhand einer Auslegung des Apostolikums (entstanden aus einer Studium-Generale-Lehrveranstaltung im Sommersemester 1967 an der Universität Tübingen), umfasst neben kleineren Schriften zu Bekenntnis, Taufe und Nachfolge Band 4 der Reihe. Er wird flankiert von den beiden hier anzuzeigenden Bänden: Band 3 aus dem Jahr 2020 trägt den Titel »Der Gott des Glaubens und der Gott der Philosophen« und bietet in zwei Teilbänden Beiträge zu dem Themenkreis »Philosophische Vernunft – Kultur – Europa – Gesellschaft«; Band 5, 2021 herausgegeben, beinhaltet unter der Gesamtüberschrift »Herkunft und Bestimmung« Texte zur Schöpfungslehre, zur Anthropologie und zur Mariologie.

Über die Editionsprinzipien für die Herausgabe der Gesammelten Schrift R.s ist hier nicht zu befinden. Dass die Anordnung der Werke nicht chronologisch, sondern nach thematischen Gesichts-punkten erfolgt, ist unter Berücksichtigung der Interessen eines breiteren Publikums verständlich, bringt aber den Nachteil mit sich, dass man der Genese des Denkens R.s und möglicher Wandlungen in seiner Entwicklung nur bedingt gewahr wird. Erste Abhilfe kann diesbezüglich der von St. Horn und V. Pfnür herausgegebene Band zu den Veröffentlichungen R.s bis zur Papstwahl schaffen (Papst Benedikt XVI./Joseph Ratzinger, Das Werk, Trier 2009), der einer zeitlichen Ordnung folgt und Angaben zur aktuellen Diskussion in Form von Rezensionstiteln mitliefert. Im Übrigen gilt, was Rolf Schönberger, emeritierter Professor für Geschichte der Philosophie mit Schwerpunkt mittelalterliche Philosophie an der Universität Regensburg, in seiner Einleitung zu GS 3/1 (21−39: »Joseph R.s Beiträge zu einer Theologie der Kultur. Eine erste Erkundung«) konstatiert: »Voraussetzung für eine angemessene Beurteilung und produktive Auseinandersetzung der hier versammelten Beiträge ist die Berücksichtigung ihrer jeweiligen literarischen Gattung. Das ist gewiss eine hermeneutische Binsenweisheit jeder interpretatorischen Bemühung. Aber in diesem Fall ist sie doch sehr zu unterstreichen, weil es sich bei nicht wenigen Texten um Vorträge, um kürzere Statements, mitunter auch um Ansprachen und Predigten, vielfach um Beiträge in essayistischer Form handelt, die dann erst im Nachhinein zu einem literarischen Sammelband zusammengestellt worden sind […]« (3/1, 38 f.) Eine Analyse der Kriterien und jeweiligen Intentionen, nach denen die Zusammenstellungen erfolgt sind, wäre eine eigene Aufgabe. In jedem Fall ist zur Beurteilung des Stellenwerts der einzelnen Texte »der Blick in die editorischen Nachweise ganz unabdingbar« (3/1, 39). Eigens erwähnt zu werden verdient, dass Rolf Schönberger seine »erste Erkundung« (21) zu den Bänden GS 3/1 und 3/2 mit einer Erinnerung an Wolfgang Cramer begonnen hat, »der sich aus dem Neukantianismus zu einem Ontologen der Subjektivität entwickelt« (ebd.) und es verdient hat, auch von Theologen intensiv studiert zu werden.

R. war erst 31 Jahre alt, als er 1958 eine Professur für Dogmatik und Fundamentaltheologie an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Freising antrat. Ein Jahr später erhielt er einen Ruf auf den fundamentaltheologischen Lehrstuhl an der Rheinischen Friedrich-Wilhelm-Universität Bonn, wo er am 24. Juni 1959 seine Antrittsvorlesung zum Thema »Der Gott des Glaubens und der Gott der Philosophen« hielt. Der, wie es im Untertitel heißt, »Beitrag zum Problem der theologia naturalis« ist in GS 3/1, 189-210 zusammen mit dem Vorwort zur Erstauflage seiner Publikation von 1960 und zum Neudruck von 2004 wiedergegeben (vgl. GS 3/2, 1012). Fast ein halbes Jahrhundert nach seiner Rede hat R. ausdrücklich bekundet, »wie sehr die damals gestellten Fragen bis heute sozusagen der Leitfaden meines Denkens geblieben sind« (GS 3/1, 190). Sie betreffen systematisch gesehen das Verhältnis von Glaube und Vernunft und in historischer Perspektive die Bedeutung der Beziehung, die zwischen dem frühen Christentum und dem Denken namentlich der griechischen Antike waltete. Beide Fragen, so R. im Vorwort zum Neudruck 2004, sind »heute, wo das Christentum entschieden aus der abendländischen Welt heraustretend sich anderen Kulturkreisen einfügen will, zu einer höchst dringlichen Problematik geworden« (GS 3/1, 190 f.). R. profiliert sie durch Gegenüberstellung der »harmonistischen Lösung« (GS 3/1, 195) des Thomas von Aquin und des »radikalen Widerspruch« (ebd.), den diese beim reformierten Theologen Emil Brunner gefunden hat, der – »in freilich sehr zugespitzter Form« (ebd.) – repräsentativ für die reformatorische Theologie insgesamt sein soll. Auf diesem paradigmatischen Hintergrund basiert seine Auffassung vom differenzierten Zusammenhang zwischen dem Gott der Philosophen und demjenigen Abrahams, Isaaks, Jakobs und Jesu Christi, der als offenbare Inkarnationsgestalt des göttlichen Logos zu bekennen ist.

Jerusalem und Athen sind zwar nicht deckungsgleich, aber auch nicht gegensätzlich, sondern stehen in einem Vermittlungszusammenhang, der, wenn man so sagen darf, in Rom sein Zentrum hat. Wer will, kann in dem vergleichsweise kurzen Text bereits alle wesentlichen Motive entdecken, die in späteren Ratzinger-Beiträgen zum »Verhältnis von Religion und Philosophie, von Glauben und Wissen, von allgemeingültiger Vernunft und religiösem Erleben« (GS 3/1, 193) im Zuge seiner Erkundung der »Möglichkeit dogmatischer Religion« (ebd.) begegnen, welche sich nicht in bloßem Gefühl ergeht, sondern sich in Kritik und Konstruktion mit dem Anspruch auf Vernünftigkeit zu artikulieren vermag. Auch die Strukturen des Argumentationsverfahrens liegen im Wesentlichen fest: Das Interesse ist weniger auf historische Komplexitätssteigerung denn auf Reduktion von Komplexität in systematisierender Absicht ausgerichtet, die Methodik des Argumentierens mithin stark typisierend und so angelegt, dass das dogmatische Endziel, welches es zu erreichen gilt, relativ schnell zu erkennen ist, weil es im Grunde von Anfang an feststeht.

R. weiß, was er will, und verfährt entsprechend, indem er dem Stoff seiner Abhandlung die gewünschte Form gibt. Dabei sind es, was die Philosophie anbelangt, weniger die neuzeitlichen als die klassisch-antiken Repräsentanten des Fachs, denen er sich im Medium ihrer Rezeption durch die mittelalterliche Theologie verbunden fühlt. Kant und der nachkantischen Moderne ist er hingegen weniger zugeneigt, wie sich ebenfalls bereits an der Bonner Antrittsvorlesung belegen lässt. Indes ist die tiefsitzende, wohl bis nach Marktl und in Hufschlager Zeiten zurückreichende skeptische Reserve R.s gegenüber der nach seinem Urteil entscheidend durch die Reformation initiierten Moderne ohnehin bekannt und hier nicht erneut darzulegen, so kennzeichnend und bestimmend sie für sein Verständnis von Kultur, Europa und Gesellschaft geworden ist.

Mit der genannten Trias sind die weiteren Themenfelder bezeichnet, denen die Beiträge von GS 3/1 u. 2 zugeordnet sind. Nach solchen, die das Spezifische des christlichen Glaubens (GS 3/1, 47−185: Der eine Gott in drei Personen) sowie seinen universalen Anspruch und Bezug zur Universalität der Vernunft (GS 3/1, 187−294) betreffen, folgen Texte zur Stellung des einen Glaubens in der Vielheit der Religionen, Kulturen und pluralistischen Gesellschaftsforma-tionen (GS 3/1, 295-569) sowie zur Identität Europas (GS 3/2, 571−810), die seit der sogenannten Zeitenwende aktueller sind denn je, insbesondere wenn man die Erwartungen in Rechnung stellt, die R. zeit seines Lebens mit der Welt der Orthodoxie verband, die ihm nicht nur in dogmatisch-ekklesiologischer Hinsicht näher zu stehen schien als die protestantisch geprägte. Beschlossen wird Band 3 der GS mit Erwägungen zur Bedeutung der Gottesfrage in Politik, Recht und Moral (GS 3/2, 811−942), an deren Ende R.s Predigt beim Pontifikalrequiem für Franz Josef Strauß in Rott am Inn sowie bei der 1200-Jahr-Feier des Bistums Paderborn stehen.

Lokale Bindung und globale Ausrichtung sind signifikant für R.s erstaunlichen Lebensweg, dessen innere Mitte die Glaubensgewissheit bestimmte, der Martin Luther folgendermaßen Ausdruck verliehen hat: »Den aller Welt Kreis nie beschloß, / der liegt in Marien Schoß […]« (Evang. Gesangbuch 23,3; Gotteslob 252,3). Damit ist zu hoffentlich allgemeiner konfessioneller Zufriedenheit der Übergang zu GS 5 genommen, von dem es in der Einleitung von Christian Schaller (der seit über einem Jahrzehnt die operative Arbeit des Instituts Papst Benedikt XVI. samt der Herausgabe der GS bzw. JRGS leitet) heißt: »Wenn im vorliegenden Band 5 die drei Traktate Schöpfung, Anthropologie und Mariologie zusammengefasst werden, so ist dies nicht nur die Erfüllung des Wunsches einer umfassenden Präsentation der einzelnen jeweils zugeordneten Texte geschuldet, sondern dient auch der systematischen Erschließung dreier Glaubensthemen in ihrer inneren Verbundenheit im Gesamt der theologischen Wissenschaft: der vom Schöpfer in Liebe erschaffenen Welt als Selbstoffenbarung seines Seins, in der dem Menschen die Möglichkeit gegeben ist, in Freiheit und Würde das Heil anzunehmen, das in Maria bereits konkrete exemplarische Gestalt gefunden hat.« (GS 5, 17)

Wer genauer wissen will, was damit gemeint ist, muss Schallers abschließender »Einladung zur Lektüre« (GS 5, 21) folgen. Man muss sich dabei an keine bestimmte Reihenfolge halten und nicht notwendigerweise mit den Anfangstexten beginnen, sondern kann auch gegen Ende einsetzen, etwa bei R.s Predigt in Fatima zu Joh 2, 1−11 (GS 5, 538−542), wo der beste und gehaltvollste Wein bekanntlich ebenfalls erst zum Schluss dargeboten wird. Im Übrigen haben ja auch die Schöpfungsgeschichten, obwohl sie aus verständlichen Gründen am Anfang der Bibel stehen, unter traditionsgeschichtlichen Gesichtspunkten eher als Spätprodukte zu gelten. Endgültig erschlossen ist ihr Sinn nach genuin christlichem Bekenntnis in der Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus, wie sie in der Kraft des Heiligen Geistes erschlossen ist, mit welchem Hinweis die trinitätstheologische Basis des ersten Glaubensartikels benannt ist, die R. schon in Teil A des ersten Teilbandes von GS 3 einschärft.