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Ausgabe:

Juni/2023

Spalte:

645-647

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Riiser Gundersen, Trygve

Titel/Untertitel:

Haugianerne. Enevelde og undergrunn. Bd. 1: 1795–1799.

Verlag:

Oslo: Cappelen Damm 2022. 704 S. Geb. NKR 449,00. ISBN 978820259246.

Rezensent:

Jobst Reller

Der norwegische Literaturwissenschaftler Trygve Riiser Gundersen legt mit diesem in einem Dissertationsprojekt zur Rhetorik des norwegischen Erweckungspredigers Hans Nielsen Hauge (1771–1824) entstandenen Buch »Die Haugianer I. Absolutismus und Untergrund« ein epochemachendes Werk zu den Erweckungsbewegungen im 19. Jh. vor. Nicht nur der Umfang verrät die hinter dem Buch stehenden 25 Jahre lange Arbeit, die die Haugesche Erweckungsbewegung bis 1799 minutiös analysiert und darstellt. Ein zweiter Band zur Zeit von 1800 bis 1824 soll folgen, der die Zeit der Inhaftierung Hauges von 1804 bis zur Unabhängigkeit Norwegens von Dänemark 1814 abdecken wird.

Im Allgemeinen wird die Zeit der Erweckungsbewegungen mit einem Hilfsschema in Anfänge (1800–1815), Blütezeit (1816–1830) und Übergang in eine Welt kirchlicher Parteiungen (nach 1830) eingeteilt (Johannes Wallmann) – im Wissen, dass sich offenkundige Erweckungsbewegungen wie z. B. die von Ludwig Harms (1808–1865) nach 1830 in der Lüneburger Heide und ihrer Umgebung initiierte und bis zu seinem Tod anhaltende Bewegung zeitlich und sachlich nicht einordnen lassen, aber auch vorlaufende Phänomene wie die Predigt Gottfried Menkens (1768–1831) in Bremen, die deutsche Christentumsgesellschaft (gegr. 1780), die Herrnhuter Diasporaarbeit, die durch den späteren Regensburger Bischof Johann Michael Sailer (1751–1832) nach 1784 ausgelöste Erweckung im katholischen Allgäu oder auch die Erweckung durch Pfarrer Henric Schartau (1757–1825) in Lund/Schweden nach 1787 nicht erfasst werden können. R.s Werk ist epochal, weil es die vom Laienprediger Hauge nach 1795 in Südost- und Westnorwegen ausgelöste Erweckung sowohl in die Sozialgeschichte des absolutistischen Königreichs Dänemark-Norwegen davor einordnet – eine Geschichte der »Unterdrückung 1660–1796« und des Ausschlusses des Volkes aus der aktiven Gestaltung der »Öffentlichkeit« (Teil 3 »Politik 1660–1796, 203–257 und Teil 5, 324–413) – als auch umfänglich und kritisch die Geschichte der Traditionsbildung zum bäuerlichen Laienprediger Hauge nachzeichnet, als dieser – nun positiv gewertet – zum Inbegriff norwegischer Volkskultur geworden ist (Teil 1: »Bilder 1824–1924«, 29–127).

Auch die erste große quellenbasierte kirchenhistorische Arbeit zu Hauge von Anton Christian Bang »Hans Nielsen Hauge og hans samtid« erschien 1874 zum 50-jährigen Todestag. Die Grenzen zur erbaulichen Erinnerungsliteratur sind durchaus fließend. Zum Teil schrieb Hauge durch immer wieder redigierte selbstbiographische Abschnitte in seinen Büchern seit Anbeginn an an seiner Geschichte mit. Zum anderen gilt es die umfänglichen, zu großen Teilen erhaltenen Akten des nach 1799 initiierten Gerichtsprozesses gegen Hauge und die Außenwahrnehmung seitens der Beamten des dänisch-norwegischen Königreichs auszuwerten. So rekonstruiert R. in minutiöser Kleinarbeit die Anfänge Hauges in seiner Heimat Tune, heute Sarpsborg, 1795/6 (Teil 2, 129–201), das Knüpfen eines Netzwerks über Südnorwegen 1796–1798 (Teil 4, 259–322), die Ausbildung einer Bewegung (Teil 6: »Mobilität«, 415–557) und die 1799 einsetzende systematische Verfolgung und Bestrafung von Haugianern (Teil 7, 559–619). Indem der Vf. Vor- und Wirkungsgeschichte kritisch darstellt, bindet er die Zeiträume vor 1800, aber auch die nach 1830 ein. So wird die Erweckung unter Theologieprofessor Gisle Johnson (1822–1894) in Kristiania, heute Oslo, nach 1851 (62) nicht als selbstständige Erweckung verstanden, sondern als der durchaus erfolgreiche Versuch, der volkstümlichen Erweckung in der norwegischen Staatskirche Raum zu geben und sie so in einem zunehmend sich demokratisch differenzierenden Norwegen in der Staatskirche zu halten. Die ersten Auseinandersetzungen mit der Arbeiterbewegung fallen in die gleiche Zeit nach 1850 (70 ff.). Das bedeutete die kirchlich durchaus angstbesetzte Anerkennung der Berufung von Laienpredigern (66) und einer demokratisch, nicht pfarrherrlich organisierten Reichsorganisation für innere Mission neben der eher kirchlichen Lutherstiftung 1868 (103). Dass die Haugesche Erweckung Teil der Modernisierung und Demokratisierung durch Individualisierung, Vereinsbildung und Wertedifferenzierung oder Pluralisierung ab dem 19. Jh. ist, gehört in Norwegen zurcommunis opinio (490.165).

Der Umstand eines weitgehend nach politischen und kirchlichen Rahmenbedingungen homogenen Raumes in Norwegen und der offenbar reich erhaltenen und aufgearbeiteten Justizakten macht es möglich, auch die Vergleichslinien zwischen der Erweckung durch Hans Nielsen Hauge und den von Sondersteuern, Hungersnöten (568.602 ff.) oder Soldatenaushebungen ausgelösten Volksaufständen in der Holzstapelstadt Moss, in Kristiania, der Bergarbeiterstadt Kongsberg oder auch in der damals größten Stadt Norwegens Bergen im 18. Jh. auszuziehen. R. legt ausführlich dar, dass Hauge oft in den Armenvierteln in Kristiania oder Bergen die ersten Anhänger fand, dass der Übergang von der Tausch- zur Geldwirtschaft (443.604 u. ö.), die Auflösung der Allmenden und die Entstehung eines landlosen Kätner- und Lohnarbeiterstandes (157.540 u. ö.) bei gleichzeitiger beträchtlicher Industrialisierung (541 u. ö.) den Kontext der Erweckung zumindest mitbestimmten. Sorge vor einem Volksaufstand war der Hauptgrund für die staatlichen Zwangsmaßnahmen nach 1804. Interessant ist, dass der nach Kopenhagen berichtende Bischof Peder Hansen (1746–1810) Hauges Bewegung mit der eines »Abdul Vechab« in Arabien gegen das osmanische Reich verglich und damit nichts anderes als den Urheber des muslimischen Wahabismus meinte (22 ff.) – eine überraschende, aber bedenkenswerte Parallele zu den europäischen Erweckungen. Der Vf. weist darauf hin, dass Erweckung auch ein urbanes Phänomen war: so in den Städten Kristiania und Bergen, 476 ff.505 u. ö.. Gerade Hauges bäuerlich geprägte Heimat Tune war zugleich die einer durch Sägewerke, Transporte und Hafenstädte geprägten Holzindustrie. Erweckung war auch Bevollmächtigung des in der Standesgesellschaft oft verachteten Pöbels (366.286.440 u. ö.) und damit zugleich nicht zufällig synchron zur französischen Revolution nach 1789 Überwindung der Standesgesellschaft. Auch in der nordwestdeutschen Erweckungsbewegung z. B. in Bremen-Verden nach 1830 oder im Wirken von Ludwig Harms lassen sich genau diese Motive aufweisen (vgl. Jobst Reller: Die frühe Erweckungsbewegung in den Herzogtümern Bremen-Verden im Spiegel der Publizistik, in: Jahrbuch der Ge- sellschaft für niedersächsische Kirchengeschichte 2006, 169–225. 125–172.136 f. [Andreas Hauge!], 152, 203).

Aus der Fülle der Details sei etwas zu den Anfängen des Wirkens Hans Nielsen Hauges selbst genannt: Deutlich wird wieder, wie die Herrnhuter Diasporaarbeit (135 ff.285.446.481.f.487.492.495.518 f. u. ö.) oder auch herrn- hutisch geprägte Pfarrer wie Gerhard Seeberg (135–137) in Hauges Heimat Tune durch Bußpredigt den Boden für die Erweckung bereiten. 1795/6 gehörte Hauge wohl zu dessen Kreis, bis er sich aufgrund von Kritik durch Seeberg im März 1796 löste (181). Er fiel als eifriger Teilnehmer an Katechisationen in Kirche und Schule auf. Hauge erinnerte sich, von Seeberg selbst als »kleiner Schulhalter« oder gar zukünftiger Pfarrer bezeichnet worden zu sein (161). In einer späteren Vernehmung ist eine Versammlung auf dem Hof Röstad bei einem Mithelfer von Pfarrer Seeberg genannt, die Hauge später selbst nicht mehr erwähnt. R. G. erwägt, dass sie vor Weihnachten 1795 stattgefunden haben könnte und damit vor dem Berufungserlebnis von 1796 (173 ff.). Hauge sah sich selbst als Verkündiger, der im Sinne der »Kinderlehre« des Katechismus anders als die falsche Lehre vieler Pfarrer wahre Buße und »Verbesserung« des Lebens einforderte (291 f.444.430. 539.546.576.619 u. ö.), Alkoholiker und andere in der Gegend aufsuchte und damit auf offene Ohren im Volke traf. Immer wieder begegnet das Phänomen der seelsorgerlichen Zuwendung (172.175.280.284.504.510.512 u. ö.). Zunächst begann Hauge mit der Verkündigung in der Familie (171.176). Bei einer Versammlung auf dem Hof Grålum im Spätsommer/Herbst 1796 kam es zu einem ersten Zusammenstoß mit dem Beamten des Staates, dem neuen Pfarrer Stevelin Urdahl (175.192 ff.). Urdahl verbot weitere Verkündigung durch Hauge mit dem Hinweis auf das 1741 gegen die Herrnhuter erlassene Konventikelplakat. Hauge stand auf und erwiderte mit der Frage, ob irgendetwas gegen das Wort Gottes gesagt worden sei. Er bezog sich seinerseits auf das Konventikelplakat, das gegenseitige Erbauung nicht verbot. Er habe den Pfarrer wieder und wieder eingeladen. Dieser sei aber nicht erschienen (195 ff.). Im Frühjahr darauf folgte das Berufungserlebnis und im Sommer 1796 der Druck seines ersten eigenen Buchs (Betrachtung über die Schlechtigkeit der Welt) und damit der bewusste Schritt in die Öffentlichkeit (178).

Das Werk wird abgerundet durch eine Zeittafel (693–697) und ein Personenregister (698–704). Die Lust des Literaturwissenschaftlers an Sprache macht die Lektüre auch literarisch zu einem Genuss, andererseits deuten die Überschriften der Kapitel oft mehr an, als dass sie zur einfachen Orientierung helfen: Teil 1, Kapitel 1 »Der Volksgeist«, Kap. 2 »Vereinigung« u. s. f. Ein Sachregister wäre insofern zur Erschließung dieses Werks wünschenswert gewesen.