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Ausgabe:

Juni/2023

Spalte:

641-643

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Peng-Keller, Simon, Neuhold, David, Kunz, Ralph, u. Hanspeter Schmitt [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Dokumentation als seelsorgliche Aufgabe. Elektronische Patientendossiers im Kontext von Spiritual Care.

Verlag:

Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2020. 326 S. Kart. EUR 40,00. ISBN 9783290183257.

Rezensent:

Michael Klessmann

Hinter der auf den ersten Blick trocken anmutenden Titelformulierung verbirgt sich eine für die Zukunft der Seelsorge im Krankenhaus und damit für das Selbstverständnis von Seelsorge und Medizin höchst brisante, anregende und auch unbequeme Fragestellung: Kann und will sich Seelsorge bzw. spiritual care auf dem Weg über die Dokumentation ihrer Tätigkeit professionalisieren und in das Gesundheitssystem integrieren, sich dort mit ihren Zielen und Methoden sichtbar machen, ihre Relevanz ausweisen, oder hält sie, unter Berufung auf das Beichtgeheimnis, an einer religiös-konfessionellen Sonderstellung, und damit an einer Randposition im System Krankenhaus fest? Für die Medizin ist darin die Frage enthalten, inwieweit sie sich als ganzheitliche, als sprechende Medizin versteht, die dann auch ernsthaft andere Professionen wie u. a. die Seelsorge in ihren kurativen und palliativen Auftrag einbezieht.

Der Band geht zurück auf eine 2019 in Zürich durchgeführte Forschungstagung, die fünfzehn Beiträge (aufgeteilt in fünf Abschnitte) stammen vorwiegend von Schweizer Autoren und Autorinnen. Das ist relevant, weil die Diskussion um Bedeutung und Praxis von Dokumentation der Seelsorge im Krankenhaus in der Schweiz (ausgehend von Impulsen aus Kanada und den USA: Dort ist die Praxis der Dokumentation beinahe selbstverständlich, weil Seelsorgende vielfach nicht von den Kirchen, sondern von den Gesundheitsinstitutionen angestellt sind) deutlich weiter vorangeschritten ist als in Deutschland, wo die rechtlichen und theologischen Vorbehalte (noch?) ausgeprägt sind. In dem begrenzten Raum dieser Rezension ist eine Besprechung der einzelnen Beiträge nicht möglich, ich kann nur die aus meiner Sicht wichtigen Fragestellungen und Akzente hervorheben.

Eine erste wichtige Unterscheidung ist die zwischen intra- und inter-professioneller Dokumentation: Für sich selbst und direkte Kollegen und Kolleginnen haben Seelsorgende natürlich auch früher schon Notizen über ihre Gespräche angefertigt und sich evtl. darüber ausgetauscht; in der Seelsorge-Ausbildung ist es seit den Anfängen im frühen 20. Jh. in den USA üblich, anonymisierte Gesprächsprotokolle vorzulegen und in einer Fallbesprechungsgruppe zu analysieren, die jeweilige Seelsorgepraxis also empirisch zu überprüfen. Eine gänzlich neue Lage entsteht jedoch mit der Frage nach inter-professioneller Dokumentation im Krankenhaus: Bildet die Schweigepflicht, der alle Berufe im Krankenhaus unterliegen, eine ausreichende Verschwiegenheit auch für die Seelsorge oder stellt das Beichtgeheimnis eine herausgehobene Verpflichtung dar, welche die Seelsorge von den anderen Professionen abhebt, Seelsorge als externen Dienst festschreibt und eine gemeinsame Dokumentation, wie sie sich besonders seit der Digitalisierung im Gesundheitswesen nahelegt, unmöglich macht? In der Palliativmedizin und in der Hospizarbeit, wo Seelsorge von den Leitlinien her verpflichtend einbezogen werden muss (vgl. dazu das wegweisende Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe von 2019 unter Bezugnahme auf entsprechende Definitionen der WHO, dazu Roser in diesem Band 279 ff.), stellt sich diese Frage besonders dringlich. Gleichzeitig ist eine solche Pflicht zur Dokumentation immer wieder strittig. Außerdem geht es um die Frage, was und wie dokumentiert werden soll: narrativ (also als frei formulierter kurzer Text) oder mit Hilfe von anzukreuzenden Checkboxen. In jedem Fall muss die Sprache, in der dokumentiert wird, so beschaffen sein, dass die anderen Professionen sie verstehen und nutzen können; dazu bedarf es entsprechender Schulungen. Ziel und Kriterium des Dokumentierens ist das Wohlbefinden der Patienten: Die verschiedenen Professionen im Krankenhaus sollen eine ganzheitliche Sicht eines kranken Menschen gewinnen können, wozu eben auch gehört, dass dieser Mensch mehr ist als seine medizinische Diagnose. Im besten Fall dient Dokumentation dazu, dass das Behandlungsteam diesen Menschen in seiner Verletzlichkeit, in seiner gegenwärtigen Krankheitssituation umfassender versteht, die emotionalen, beziehungsorientierten und spirituellen Aspekte seines Lebens berücksichtigen kann (vgl. Mösli 99 ff.) und damit insgesamt die Kommunikationskultur mit den Patienten/Patientinnen und zwischen den Professionen befördert. Ein biopsychosozial-spirituelles Gesundheitsmodell und die schon häufig beschworene Anwaltschaft der Seelsorge für die Patienten im Krankenhaus kann auf diesem Weg konkrete Gestalt gewinnen.

Es werden verschiedene (Fall-)Beispiele seelsorglicher Dokumentation vorgestellt, Indikationen und Kategorien benannt, welche Beobachtungen und Inhalte in einer Dokumentation berücksichtigt werden sollten (Vandenhoeck 79 ff., Mösli 99 ff., Jenewein/Metz 237 ff.; Peng-Keller 308 ff. u. ö.). Als »marker« für spiritual care können beispielsweise Aspekte von Hoffnung, Beziehungen, Überzeugungen/Praktiken, Werte/Engagements dienen (ebd. 91) oder Sinn, Transzendenz, Identität, Werte, jeweils mit einigen Unterkategorien (144). Solche Kategorien dienen nicht nur der Dokumentation im engen Sinn, sie schärfen und differenzieren auch die Wahrnehmung der Seelsorgenden und tragen dazu bei, spirituelle Themen im medizinisch-pflegerischen Kontext offenzulegen und zu enttabuisieren. Knackpunkt der Diskussion ist wiederholt die Frage nach der Bedeutung des Beichtgeheimnisses in Relation zur Verschwiegenheitspflicht, der alle Professionen im Krankenhaus unterliegen.

Kann es abgestufte Verschwiegenheitspflichten geben? Geheimnis bezeich- net eine notwendige, heilsame, möglicherweise aber auch destruktive Seite menschlicher Existenz; Beichte soll diese Destruktivität aufheben und gleichzeitig das Geheimnis von Schuld und Verfehlung (be-)wahren. Das läuft darauf hinaus, dass man mit den Betroffenen in jeder Begegnung klären muss (Jenewein/Metz 248 f.), was dokumentiert werden darf und was nicht, ausgehend von der Prämisse, dass längst nicht alles, was in der Seelsorge zur Sprache kommt, dem Beichtgeheimnis unterliegt. Aus historischer Sicht ist im Übrigen interessant, dass das Beichtgeheimnis in seiner strengen, »unverbrüchlichen« Form erst im Zusammenhang mit der Einführung der allgemeinen Beichtpflicht im 13. Jh. kirchenrechtliche Geltung gewann und nicht zuletzt der Machtsteigerung der Kirche und ihrer Priester diente (Neuhold 177ff.). Ist dann aus heutiger Sicht eine »Weiterentwicklung« des Seelsorgegeheimnisses in Richtung eines kollektiven Berufsgeheimnisses denkbar?

Weitgehend einig sind sich die Autoren und Autorinnen, dass Seelsorge im Krankenhaus dokumentiert werden muss, sonst tritt sie nicht in Erscheinung: »Was nicht dokumentiert ist, hat nicht stattgefunden« (Monteverde 229). Seelsorgliche Dokumentation sensibilisiert das gesamte Behandlungsteam für spirituelle Aspekte (247), trägt dazu bei, dass spiritual care deutlicher auch als Teil der Pflege begriffen werden kann; sie erweitert das Wahrnehmungsspektrum, indem sie auch offene Stellen und Unsicherheiten im Umgang mit kranken Menschen thematisiert; sie kann sogar als Praxis spiritueller Reflexion und als Teil der Selbstsorge der Seelsorgenden verstanden werden (Peng-Keller 307 ff.).

Das Buch gibt keine eindeutigen Empfehlungen, es klammert die ungeklärten, aber klärungsbedürftigen Fragen nicht aus, aber die Tendenz ist deutlich: Die Seelsorgenden sollten unter sich, mit den anderen Professionen, mit den kirchlichen Trägern wie den Klinikleitungen in Kommunikation treten über die strittigen Fragen der Dokumentation, des Ob und des Wie; bereits dieser Diskurs könnte viel zur Klärung des (Selbst-)Verständnisses von Seelsorge bzw. spiritual care im Kontext der anderen Berufe im Krankenhaus beitragen und sich wie ein Professionalisierungs- schub für die Seelsorge und die gesamte Care-Arbeit auswirken. So ist diesem anregenden Buch eine weite Verbreitung zu wünschen.