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Ausgabe:

Juni/2023

Spalte:

639-641

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Inderst, Inja

Titel/Untertitel:

Seelsorge und »das Böse«. Zum Umgang mit Wertungsunterschieden in der Gefängnisseelsorge.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2022. 352 S. = Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologie, 99. Geb. EUR 90,00. ISBN 9783525560495.

Rezensent:

Isabelle Noth

Menschen unterscheiden sich in ihren ethischen Urteilen und moralischen Bewertungen. Was den einen unerträglich ist, mag den anderen zulässig erscheinen. Wertedifferenzen treten im Zuge von Globalisierung und Pluralisierung deutlicher denn je zutage. Irritationen, die dadurch ausgelöst werden, und die Suche nach Orientierung führen seit einigen Jahren dazu, dass von vielen Seiten eine Wertediskussion für dringend nötig erachtet und diese auch vielerorts geführt wird. Die jüngst erschienene Dissertation von Inja Inderst »Seelsorge und ›das Böse‹«, die bei Eberhard Hauschildt in Bonn entstanden ist, kann vor diesem Hintergrund gesehen werden. I. fordert jedoch nicht primär eine Wertediskussion, sondern eine Wertereflexion. Als besondere Herausforderung sieht sie die Kategorie «des Bösen», die sie im Handlungsfeld der Gefängnisseelsorge erforscht. Dieses »›Böse‹ in seiner Polyvalenz wahrzunehmen, bedeutet, es auch reflektieren zu können.« (54) Ziel der Studie ist es, »Grundsätze für einen fruchtbaren Umgang mit ›dem‹ vielfältig verstandenen ›Bösen‹ in der Gefängnisseelsorge« (19) zu formulieren. Dabei will I. Pluralität besonders berücksichtigen und »die sich darin findenden Differenzen als berechtigt, ja unter Umständen sogar notwendig deute(n)« (ebd.). Ihre These lautet, dass Differenzen in der Seelsorge »bestehen bleiben können sollten […] Weder die eine noch die andere Richtung kann allein zu Voraussetzung und Ziel der Seelsorgesituation werden.« (55) Wenn dies anerkannt wird, kann ein neuer Zugang, eine neue Sichtweise auf und ein veränderter Umgang mit Unterschieden im Normsys-tem gefunden werden.

Nach einem kurzen Abriss über das Böse in der Theologie und der Erläuterung des Zentralbegriffs der Untersuchung – »Polyvalente Normativität« – führt I. in den Forschungsstand im Bereich der Gefängnisseelsorge ein. Dafür verwendet sie die beiden Klassiker von Ellen Stubbe (1978) und Peter Brandt (1985). (Leider ist ihr die Dissertation von Frank Stüfen »Freiheit im Vollzug. Heiligungs- und befreiungsorientierte Seelsorge im Gefängnis« (2020) nicht bekannt, und auch die Veröffentlichungen der 2018 gegründeten Zeitschrift »Seelsorge & Strafvollzug. Zur Praxis heutiger Gefängnisseelsorge« sind ihr entgangen.)

In einem nächsten Kapitel wird »der Kontext der Gefängnisseelsorge« aus strafrechtlicher und poimenischer Sicht rekapituliert und der Strafvollzug näher beleuchtet, wobei auch die »Rolle und Identität Seelsorgender« folgerichtig berücksichtigt werden. Es folgt eine mehrdisziplinäre Analyse des Begriffs »des Bösen«. Teil III bildet das Hauptkapitel der Studie. Es befasst sich mit der Frage, wie Kommunikation überhaupt und erst recht des Evangeliums geschehen kann im Umgang mit »dem Bösen«. I. knüpft an die sozio-linguistischen Studien von Eberhard Hauschildt und dessen Schülers Eike Kohler an und zeigt anhand ausgewählter Beispiele, wie Seelsorge stets »sprachlich ausgehandelt wird« (287). Schließlich ist es der bewusste Einsatz von Kommunikation, der in sich die Chance birgt, »sich zu Polyvalenter Normativität zu verhalten«, ohne dabei die bestehenden Gegensätze nivellieren zu müssen, um in seelsorglicher Verbindung zu bleiben. (287) Teil IV fasst die Ergebnisse der Arbeit und ihre Konsequenzen zusammen. Dabei treibt I. die Überzeugung an, »›Polyvalente Normativität‹ nicht nur wahrzunehmen, sondern sie normativ zu setzen. Ganz schlicht heißt das für die Seelsorge: Es gibt nicht die richtigere [sic; IN] Lösung.« (326) So schlägt I. als »Leitbild ›Normative Differenz*‹« vor (ebd.). Der Asterisk diene dazu anzuzeigen, dass auftretende Wert- unterschiede »nicht voreilig wegtheoretisiert werden sollen« (326), weil sonst das Gegenüber nicht wirklich ernstgenommen würde.

Gerne möchte man – insbesondere als Gefängnisseelsorgerin – mit der Autorin ins Gespräch treten. Was heißt »Lösung«? Gibt es keine Kriterien wie z. B. die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die nicht verhandelbar sind? Zudem ist es nach meiner Erfahrung sehr wohl möglich, einen Insassen ernstzunehmen, mit ihm seelsorglich in Verbindung zu bleiben und trotzdem klar Unterschiede zu benennen – wobei es in der Seelsorge sehr viel mehr um den Versuch zu verstehen geht, als um zu bewerten. Nach meinen Beobachtungen werden Wertedifferenzen von Gefängnisseelsorgenden präzis wahrgenommen und selten nivelliert. Sie haben jedoch tatsächlich nicht jenen Stellenwert in der praktischen Seelsorgetätigkeit, wie es I. voraussetzt. Doch auch darüber mögen unterschiedliche Ansichten und Wertungen bestehen.