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Ausgabe:

Juni/2023

Spalte:

632-634

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Rüegger, Heinz

Titel/Untertitel:

Lebenskunst des Alterns. Gerontologische und theologische Aspekte.

Verlag:

Zürich: Theologischer Verlag 2023, 192 S. Kart. EUR 29,80. ISBN 9783290185312.

Rezensent:

Silke Peters

Heinz Rüegger ist Theologe, Ethiker und Gerontologe und mit dieser interdisziplinären Ausrichtung assoziiertes Mitglied des Zentrums für Gerontologie der Universität Zürich. In seinem überaus klugen Buch entfaltet er eine ars senescendi für ein gutes Leben im Alter. Das Alter wird als eine Lebensphase von eigenem Wert, eigener Bedeutung und eigenen Qualitäten charakterisiert, die weit mehr beinhaltet als ein Abbauen und Hinwelken. Damit eröffnen sich Perspektiven, die in kirchlichen und gesellschaftlichen Kontexten unserer Gegenwart nicht selbstverständlich sind. Fundamental ist die gerontologische Einsicht, dass der Alternsprozess gestaltbar ist, insbesondere durch die Einstellung, die man dazu gewinnt. Deswegen plädiert R. dafür, Chancen und Potenziale des Alters wahrzunehmen, ohne die Herausforderungen und Schwierigkeiten, die auch damit verbunden sein können, zu verleugnen. Er betrachtet das Altern als einen offenen Entwicklungsprozess, der über weite Strecken gleichzeitig durch Phänomene des Verlustes und des Zugewinns bestimmt sein kann. So bleiben angesichts von körperlichen Einschränkungen mit fortschreitendem Alter immer noch Entwicklungsmöglichkeiten auf psychischer und spiritueller Ebene bestehen. Diese gilt es wahrzunehmen und zu entfalten.

Wie das geschehen kann, legt R. in vier Kapiteln anschaulich dar. Grundlegende Perspektiven (23–51) entfalten die philosophischen und theologischen Grundlagen der Lebenskunst: Diese gründet in der antiken philosophischen Tradition eudämonistischer Ethik und in christlich-theologischer Hinsicht insbesondere in den Weisheitstraditionen der hebräischen Bibel. Zentrale Bedeutung kommt dem Ideal der Lebenssättigung zu, dem Stillen von Lebenshunger und der Generativität als Weitergabe von Segen.

Das Kapitel Ausschöpfen (53–82) beleuchtet spezifische Chancen, Ressourcen und Potenziale des Alters. Nach der mittleren Lebensphase mit ihren zahlreichen beruflichen und familiären Aktivitäten und Verpflichtungen kann das Alter einen stärkeren Zugang zur rezeptiven Grunddynamik des Lebens eröffnen und zu einer Haltung der Dankbarkeit führen. Gegen gängige Defizitmodelle des Alterns weist R. mit Impulsen der paulinischen Charismenlehre und gerontologischen Erkenntnissen auf spezifische Fähigkeiten und Begabungen alter Menschen hin (59–61). Seine Ausführungen zur Sexualität (79–81) veranschaulichen die Wechselbeziehungen zwischen Abnahme und Zugewinn ebenso wie Kompensationsmöglichkeiten im Alter. Unabdingbare Voraussetzung ist allerdings, dass die Orientierung an den Maßstäben der jüngeren Lebensjahre Veränderungen erfährt.

Das Kapitel Zulassen (83–122) betrachtet das Leben im Horizont von Minderung und Verletzlichkeit als spezifische Herausforderung des (hohen) Alters. Sie erfordert eine Offenheit für das Unverfügbare und die passiven Fähigkeiten des Lebens: Dinge geschehen zu lassen, anzunehmen, was schicksalshaft widerfährt, und damit lebensdienlich umzugehen (97). Als Menschen sind wir in allen Lebensphasen aufeinander angewiesen. Diese Tatsache wird im hohen Alter besonders intensiv erfahren. Die eigene Abhängigkeit annehmen und souverän damit umgehen zu können, ist daher für eine Lebenskunst des Alterns unverzichtbar (101–105). Ebenso gilt es, eine reflektierte Einstellung zu Gesundheit und Krankheit zu entwickeln (112). Gegen gängige Pathologisierungen des Alters differenziert H. zwischen Alterungsprozessen und Krankheiten. Erstere sind als konstitutiv zum Leben gehörend anzuerkennen, letztere möglichst präventiv zu verhindern oder therapeutisch zu behandeln (113 f.).

Im Kapitel Sinnfindung (123–159) geht es um Fragen des Umgangs mit Sinn, Sinnlosigkeit und der Vergänglichkeit des Lebens. Die lange Tradition des memento mori in der christlichen Frömmigkeit versteht sich im Sinne der Lebenskunst (154 f.). Angesichts der gestiegenen Lebenserwartung wird Endlichkeit heute oftmals als gnädige Begrenzung erfahren. Daher legt es sich nahe, sich im Alter rechtzeitig über medizinische Entscheidungen zum Lebensende Gedanken zu machen (157 f.).

H. vertieft seine Ausführungen mit zahlreichen Bezügen auf zeitgenössische Vertreter aus der Theologie und Philosophie, wie auch aus der Psychologie, Literatur, Medizin und anderen Wissenschaften. Das liest sich ausgesprochen anregend, zumal es der Autor versteht, komplexe Zusammenhänge verständlich, differenziert und präzise darzulegen. Sein Buch ist nicht nur für Menschen geschrieben, die beruflich mit Altersthemen befasst sind, sondern für alle, die sich mit dem Prozess des Alterns auseinandersetzen und nach hilfreichen Orientierungen suchen. Es eröffnet eine realistische Sicht auf das Alter, die der ambivalenten Erscheinung des Alters Rechnung trägt, ohne seine verheißungsvollen Perspektiven auszublenden. Es zeigt eindrücklich auf, welche Entwicklungen möglich sind, wenn die Orientierung an den Maßstäben der mittleren Lebensjahre Veränderungen erfährt und das Alter grundsätzlich bejaht wird.