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Ausgabe:

Juni/2023

Spalte:

622-624

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Ohly, Lukas

Titel/Untertitel:

Dogmatik in biblischer Perspektive. 45423.

Verlag:

Tübingen: UTB 2020. 272 S. = utb. Kart. EUR 22,90. ISBN 9783825254230.

Rezensent:

Christian Schaufelberger

Der akademischen Theologie wird ein Relevanzproblem attestiert: Die Tage, da sie noch das Interesse einer breiteren Öffentlichkeit wecken konnte, liegen in der Vergangenheit, und auch regelmäßige Kirchgänger wissen oft nicht mehr, was sie mit theologisch-wissenschaftlichen Publikationen anfangen sollen (vgl. z. B. Volf/Croasmun, For the Life of the World, 2019). – Lukas Ohlys Dogmatik in biblischer Perspektive wirkt vor diesem Hintergrund wie eine Antwort. Der Klappentext verspricht »die Wahrheit des christlichen Glaubens erfahrungsnah und weitgehend ohne Fachsprache zu begründen«, sodass Leserinnen und Leser »an ihren Lebenserfahrungen die Plausibilität christlicher Wahrheitsansprüche abgleichen können«. Damit stellt sich O. einer anspruchsvollen Aufgabe. Ihm traut man sie jedoch zu; er ist nicht nur Professor für Systematische Theologie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main, sondern auch langjähriger Pfarrer der evangelischen Kirchgemeinde im hessischen Nidderau-Ostheim.

Wie der Brückenschlag zwischen Theorie und Praxis, zwischen Universität und Kirchgemeinde gelingen soll, erklärt eine kurze Einleitung (11–13). In ihrem Zentrum steht die These, dass der »christliche Glaube […] typische Erfahrungen, mit denen Menschen im Laufe ihres Lebens konfrontiert werden«, deutet und so das Leben verständlich macht. Vermittelt durch die biblischen Texte sind Christinnen und Christen »Modelle« gedeuteter Erfahrung zugänglich, die »Instrumente zur Lösung von Denk- und Lebensproblemen« bieten (12). Wie alle »wissenschaftlichen« Modelle müssen sich auch die theologischen »im Leben und Sterben bewähren« (11). Sie können sich als »tragbar« herausstellen, könnten aber auch »verworfen und durch andere ersetzt« werden (12). Aufzuzeigen, dass und wie christlich-biblische Deutungsmodelle sich an den alltäglichen Phänomenen des Lebens bewähren und damit bewahrheiten, das ist das Ziel von O.s Buch (Klappentext). Insofern verdient es sein Werk, sowohl biblisch als auch phänomenologisch genannt zu werden. Dogmatisch ist es primär aufgrund seiner Kapitelstruktur, die sich an der klassischen Einteilung einer Dogmatik orientiert. Als System will O. sein Werk explizit nicht verstanden haben: »Sein roter Faden besteht nicht in einer einheitlichen Argumentationsentwicklung, sondern in meiner Methode« (13).

Wie gut aber gelingt O. die Umsetzung dieses ambitionierten Projektes? Die erstaunliche Fülle an Themen, die in 36 eigenständigen Kapiteln und auf bloß 272 Seiten verarbeitet wird, erlaubt nur die Probe aufs Exempel: Genauere Betrachtung soll der Abschnitt zur Sündenlehre erfahren. Das hierzu relevante Kapitel 18 trägt den Titel »Der sündige Mensch« (113–119) und bildet den Abschluss des III. Hauptteils zur Schöpfungslehre (77–119), die etwas allgemeinverständlicher mit »Gottes Geschöpfe« überschrieben ist.

Wie die meisten Kapitel beginnt auch dieser Abschnitt mit einer Begriffserklärung, die gewissermaßen das Lehrbuchwissen zum Thema kurz zusammenfasst: Sünde wird als »Verfehlung des Menschen« präzisiert, die man in der Vergangenheit oft »moralisch verkürzt, als Bruch von Gottes Geboten« verstanden habe. Inzwischen beschreibe das Wort aber eine »grundsätzliche Spannung des Menschen zu seinem Gottesverhältnis« (113).

Darauf folgt die Auslegung eines Bibeltextes, zitiert nach der revidierten Lutherübersetzung, jedoch stellenweise in selbständiger Übersetzungsarbeit angepasst, «um die Pointe des Textes dadurch klarer herauszuheben« (13). Für das Sündenkapitel wurde – vielleicht wider Erwarten – nicht Gen 2, sondern der Ps 139 ausgewählt. Geschickt, lebensnah und sensibel geht O. bei der Auslegung vor und widmet der seelsorgerlich brisanten Frage nach der »Schuld gegenüber verstorbenen Menschen« einen eigenen Abschnitt (117–119). Als Pointe des Psalms arbeitet er ein moralisches »Dilemma« heraus: Aufgrund unserer menschlichen »Erkenntnisgrenzen« le­- ben wir »unausweichlich so, dass wir möglicherweise moralisch Falsches tun, ohne es zu wissen« (116). Andererseits »gehört es zum moralischen Denken, dass ich richtig handeln will« (114). Eben diese »Zerrissenheit« nennt der Verfasser »Sünde«. Wie können Menschen in einer solchen Situation leben und handeln? Die Antwort könnte klassischer nicht sein: Wenn der Psalmist im Vers 23 betet: »Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz.«, dann bittet er um seine moralische »Rechtfertigung«, denn als Allwissender weiß Gott allein »ob mein Handeln und Sein gerechtfertigt sind« (114). Kurz: »Der Sünde entkommen wir […] nur mit Gottes Hilfe« (116).

Den Abschluss des Kapitels bildet eine kurze Liste mit – teils ziemlich anspruchsvoller – »Literatur zur Vertiefung«, die mit hilfreichen Kommentaren zu deren Inhalt ergänzt wurde. Das entspricht dem Anliegen, Leserinnen und Leser in die Aufgabe zu involvieren, »religiösen Glauben und nachprüfbare Vernunft in ein konstruktives und lebensnahes Verhältnis zu bringen« (13). Der etwas genauere Blick auf das Sündenkapitel zeigt also, dass O.s Dogmatik hält, was sie verspricht. Theologisch komplexe und oft von jahrhundertelangen Diskussionen überfrachtete dogmatische Topoi werden lebensnah, verständlich und vor allem glaubwürdig vermittelt. So wird es Leserinnen und Lesern möglich, die Frage nach deren Wahrheit bzw. Bewährung im eigenen Leben zu stellen. In gewissen Punkten bleibt das Buch jedoch hinter seinen Ansprüchen zurück:

1. Mit Rückblick auf die Methodik darf es nicht verwundern, dass O.s Dogmatik nicht nur klassische bzw. theologisch konservative Positionen vertritt. Der Frage nach lebensweltlicher Bewährung gilt sein Interesse, und zahlreiche Lehrstücke erfahren deshalb Modifikationen. Das ist berechtigt, könnte aber auch für Verwirrung sorgen, wo diese Dogmatik als Lehrbuch oder Einführung verwendet wird. Bedauerlicherweise lässt der Verfasser nicht immer durchscheinen, wo er traditionelle Lehrmeinungen verlässt oder gar verwirft.

2. Ebenfalls lässt das Buch stellenweise die für eine »Dogmatik« doch bezeichnende Systematizität vermissen. Das Kapitel 7 plädiert z. B. dafür, dass Gott »keine Person ist« (44), in den darauffolgenden Ausführungen zur Trinitätslehre (45–48) wird der Personbegriff jedoch wie selbstverständlich auf Gott angewendet. Die damit aufgeworfene Frage nach der Konsistenz des christlichen Glaubens könnte das Anliegen nach dessen Bewährung empfindlich verletzen.

Lohnt es sich trotzdem, Lukas O.s Dogmatik in biblischer Perspektive zu lesen? Auf jeden Fall. Auf zugängliche und lehrreiche Art und Weise gelingt es diesem Buch, eine moderne, akademisch informierte Theologie deutschsprachiger Prägung für Lebenswelten des 21. Jahrhunderts sprachfähig zu machen. Sowohl kirchlichen Mitarbeitenden, Studierenden als auch ganz allgemein an Theologie Interessierten sei es empfohlen.