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Ausgabe:

Juni/2023

Spalte:

618-620

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Huizing, Klaas

Titel/Untertitel:

Lebenslehre. Eine Theologie für das 21. Jahrhundert.

Verlag:

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus (Penguin Randomhouse) 2022. 776 S. m. 16 S. Farbbildteil. Geb. EUR 38,00. ISBN 9783579074672.

Rezensent:

Rochus Leonhardt

Nachdem der Würzburger Systematische Theologe Klaas Huizing, zweifellos einer der literarisch produktivsten Vertreter seiner Zunft, bereits 2016 eine theologische Ethik vorgelegt hatte, ist im Juli 2022 unter dem Titel »Lebenslehre« ein Dogmatik-Entwurf erschienen. Der Titel knüpft an Trutz Rendtorffs Verständnis der ethischen Theologie als Theorie der menschlichen Lebensführung an, verbunden mit der Absicht, Rendtorffs Ansatz leibtheoretisch zu reformulieren. Der Untertitel weist das Buch als »Eine Theologie für das 21. Jahrhundert« aus. Eine solche Zukunftsorientierung findet sich schon in Ingolf Dalferths Buch »Radikale Theologie« (2010), das in seiner 4. Auflage von 2021 ausdrücklich den Untertitel »Glauben im 21. Jahrhundert« führt; allerdings kommen bei H. weder Autor noch Titel dieses Opusculums vor.

Der Haupttext von H.s Entwurf besteht aus drei Teilen. Auf die Fundamentaltheologie (»Basics«: 15–139) folgt die materiale Dogmatik (»Content«: 141–558); daran schließt sich eine Ultrakurzzusammenfassung des Gesamtentwurfs an (»Results«: 559–568). Auf den Haupttext folgt zunächst ein ausführlicher Anmerkungsapparat (569–697), der, über die Zitatnachweise hinaus, zahlreiche eingehende Ausführungen und Problemdiskussionen enthält. Am Ende des Buches finden sich schließlich ein – ebenfalls opulentes – Literaturverzeichnis (699–760) sowie Bildnachweise (zwischen den Seiten 392 und 393 gibt es einen 16-seitigen Farbbildteil), ein Personenregister und eine Danksagung. Im Rahmen der »Basics« (= Prolegomena) ordnet H., nach einem Einführungsabschnitt, seinen Entwurf in den gegenwärtigen Dogmatik-Diskurs ein; anschließend werden noch Schrift- und Sündenlehre verhandelt.

In den insgesamt acht »Content«-Kapiteln geht es um Gott, die Schöpfung, den Menschen, die Theodizee und die Christologie sowie die Pneumatologie, die Ekklesiologie und schließlich die Eschatologie; die Trinitätslehre wird dezidiert nicht verhandelt (vgl. 33. 449). Abgesehen vom Einführungsabschnitt werden alle »Basics«- und »Content«-Kapitel durch einen kurzen als »Stimulus« bezeichneten Text im Kursivdruck eingeleitet. Angereichert werden sie überdies durch insgesamt sechs Abschnitte zu »Wege[n] und Realisationsformen des Heiligen«; gemeint sind damit Perspektiven »auf das menschliche Leben und auf die Welt« (32), die nicht aus der professionellen Theologie stammen, etwa Romane und Werke der bildenden Kunst. Die Leser machen Bekanntschaft mit den Romanen von Gerhard Meier, John Maxwell Coetzee und Sibylle Lewitscharoff (in der Gliederungsübersicht des Einführungsabschnitts werden nur diese drei »Intensivlektüren« [32] angekündigt). Sie werden überdies vertraut gemacht mit dem Tympanon am Nordportal der Würzburger Marienkapelle, mit den Werken des Leipziger Malers Michael Triegel und mit den Installationen der Klangkünstlerin und Komponistin Denise Ritter.

Die Grundlage der einzelnen Kapitel bzw. Abschnitte, von H. immer wieder als »Essays« bezeichnet (33, 485 u.ö.), waren Vorlesungen, zu denen H. die Hörer um Rückmeldungen gebeten hat. Aus der so entstandenen E-Mail-Korrespondenz sind regelmäßig am Ende der »Essays« Auszüge abgedruckt. Sie enthalten manchmal präzise Zusammenfassungen oder hilfreiche Konkretisierungen; die »Results« bestehen lediglich aus zwei kurzen studentischen Fragen und H.s ausführlichen Antworten darauf.

Bereits der Blick auf die Struktur des Buches macht deutlich, dass H.s Entwurf für einen in mancher Hinsicht unkonventionellen Zugriff steht. Dies gilt noch mehr für das inhaltliche Profil. Beim ersten der zwei für H. wichtigen Orientierungspunkte handelt es sich um die biblische Weisheitsliteratur, wobei namentlich Prov 1–9 (und insbesondere Prov 8,22–31) im Blick ist, ein Text, der »oft bei den Theologen (hier trifft das männliche Genus) in einer Rumpelkammer des Gehirns abgelegt und vergessen« wurde (186); er bringe zum Ausdruck, dass der Welt Kreativität eingeschrieben ist und dass es darum geht, »präventiv Atmosphären zu meiden, die die Welt und das Leben in der Welt aus der Balance bringen« (197). Der zweite Orientierungspunkt ist die Leibphänomenologie des 2021 verstorbenen Philosophen Hermann Schmitz (vgl. u. a. 54–70); die Schmitz-Rezeption soll dabei helfen, »die emotionale Anorexie protestantischer Theologie zu therapieren« (55), eine Anorexie, die H. auch in zeitgenössischen emotionstheoretischen Arbeiten der evangelischen systematischen Theologie diagnostiziert; Roderich Barth etwa unterschätze »die Leibdimension der Gefühle« (629 Anm. 189 – der hier kritisierte Aufsatz fehlt im Literaturverzeichnis). Für H. gehört dagegen die Leib-Priorität zur conditio humana: »Der Leib ist das Urmedium der Resonanz und Ausgangspunkt für unsere Wahrnehmung, unser Spüren, unser Erleben.« (563)

Mit seiner Fokussierung auf Leiblichkeit und Lebensgenuss (vgl. 26) hängt auch die – gleich in den »Basics« vorgetragene – Kritik an der christlichen Sündenlehre zusammen, die H. bereits in früheren Publikationen geäußert hat. Was er aus den biblischen Überlieferungen systematisch mitnimmt, ist die auf Gen 4,7 zurückgeführte Aufforderung Gottes, über die Sünde zu herrschen (»du aber herrsche über sie«). Daraus leitet er einen prospektiven Zugriff ab. Nicht eine postlapsarische Weltsituation ist der Gegenstand christlicher Glaubensreflexion, sondern es geht um Sündenprävention, also um Strategien zur Vermeidung des malum morale: »Zwar steht die Sünde vor der Tür, man kann sie aber draußen lassen.« (174) Damit verbindet H. – konkret im Theodizee-Kapitel – auch die Auffassung, der Mensch als Co-Kreator besitze die Macht zur Linderung etlicher mala physica (vgl. 302).

Die skizzierten Vorentscheidungen wirken sich auf die inhaltliche Gestaltung der dogmatischen Lehrstücke aus. Was etwa die Christologie angeht, so wird Jesus als Weisheitslehrer portraitiert, zu dessen Bildungsgeschichte auch eine Niederlage und eine daraus folgende Neuausrichtung gehören: Nachdem Jesus die kanaanäische Frau gedemütigt hat, korrigiert er nach deren Replik sein Selbstbild und antwortet »mit einer eleganten und zugleich grundsätzlichen Kurs-Korrektur […]. Er ist jetzt nicht länger nur lokaler Weisheitslehrer, sondern für die ganze Welt zuständig und verantwortlich.« (347 f.; vgl. Mt 15,21–28) Nachfolge Jesu heißt in diesem Sinne: Sündenprävention dadurch betreiben, dass man die (leiblich erlebte und Scham auslösende) Hinterfragung des eigenen Selbstbildes nicht ignoriert (und damit Scham in Schuld verschoben) wird. – »Ich plädiere für eine Weisheitschristologie, die am plakatierten Jesus zeigt, wie Leben besser gelingen kann, wenn man resonant, lebendig und korrekturfähig bleibt.« (363) Hier wird deutlich, dass H.s Kritik der Sündenlehre vom Versuch einer Neuformulierung flankiert wird: »Ist Sünde die Versteinerung des eigenen Selbstbildes, dann ist konsequente Irritierbarkeit das Zeichen für Sündlosigkeit.« (361) »Selbstbildborniertheit« (302) ist deshalb zu ersetzen durch »radikale Resonanzoffenheit« (361), die auch mit Statusverzicht und Selbstzurücknahme einhergeht. Wo solche Offenheit zum Zuge kommt, also dort, wo »ich in der Lage bin, mein Selbst für Irritationen offenzuhalten« (450), dort ist nach H. der Heilige Geist; dabei richtet er sich dezidiert gegen jene »Engführung der Pneumatologie«, die eine »exklusive Rückführung [scil. des Geistes] an Jesus Christus« betont (ebd.). Da nun aber, so die eschatologische Konsequenz dieser christologischen und pneumatologischen Überlegungen, der Tod dem Ideal der selbstbild-relativierenden Resonanzoffenheit und insofern der göttlichen Lebendigkeit widerspricht, kann er nicht das Ende sein. Wäre er es, käme es zur »Petrifizierung des eigenen Selbstbildes«, und die »Sünde würde durch den Tod siegen« (507). In Anlehnung an – natürlich – Hermann Schmitz präferiert der Lebens- und Leibeslehrer H. daher eine Unsterblichkeit des Leibes (515), wobei der Leib hier als »Geistleib« zu verstehen (ebd.) und nicht mit dem Körper zu verwechseln ist. In welchem Verhältnis diese Geistleib-Lehre zu älteren nicht streng dualistisch gebauten Seelentheorien steht, wird nicht erörtert.

So viel zu den – nur oberflächlich skizzierten – Hauptschwerpunkten der »Lebenslehre«. Wie ist diese Monographie einzuschätzen? Den Ausgangspunkt meiner Überlegungen dazu bildet ein Rückgriff auf § 19 Abs. 4 von Schleiermachers Glaubenslehre (nach der 2. Auflage). Als »Verirrungen auf dem dogmatischen Gebiete« nennt er hier neben rein traditionell argumentierenden Darstellungen und solchen, die ganz ohne Rekurs auf fromme Gemütszustände verfahren, auch »solche, die aus einer vorübergehenden verworrenen Bewegung auf dem kirchlichen Gebiet entsprungen nur diese einseitig auffaßten, also ganz am Moment hängen blieben, wobei denn gar leicht auch Willkührlichkeit und Sophistik an die Stelle der wissenschaftlichen Strenge treten« (KGA I/13, 147,24-28). Es wäre überzogen, diese Formulierungen glatt auf H.s Entwurf zu beziehen. Aber in gewisser Weise treffen sie durchaus. H. präsentiert seine vielfach interessanten und kreativen Ideen zu dogmatischen Innovationen zwar mit regelmäßigen Rückblicken auf einschlägige gegenwärtige Debattenlagen, doch vermag er weder den fachdogmatischen Diskursen noch gar der nur in homöopathischen Dosen rezipierten reformatorischen Tradition Wesentliches abzugewinnen. Im Grunde sind die entsprechenden Rekurse entbehrlich, da sie vornehmlich dazu dienen, die sachliche Überlegenheit von Hermann Schmitz und Prov 8 sowie der kulturellen »Realisationsformen des Heiligen« zu demonstrieren, für die sich H. offensichtlich vor allem interessiert.

Als unangenehm habe ich beim Lesen die überbetont locker-studentennah angelegte und dabei streng auf politische Korrektheit bedachte Sprachgestalt des Textes und das sichtliche Bemühen um rhetorische Brillanz empfunden. Wegen der Tendenzen zu, um nochmals Schleiermacher zu zitieren, »Willkührlichkeit und Sophistik« hat die Lektüre jedenfalls bei mir neben dem Eindruck der beneidenswerten Gelehrtheit des Verfassers auch ein wenig Kopfschütteln und vor allem Ratlosigkeit hinterlassen.