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Ausgabe:

Juni/2023

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Dahlke, Benjamin, Dockter, Cornelia, u. Aaron Langenfeld [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Christologie im Horizont pneumatologischer Neuaufbrüche. Bestandsaufnahmen und Perspektiven.

Verlag:

Freiburg i. Br. u. a.: Verlag Herder 2022. 342 S. = Quaestiones Disputatae, 325. Kart. EUR 52,00. ISBN 9783451023255.

Rezensent:

Lukas Ohly

Die alte Frage, wie Christus wahrer Gott und wahrer Mensch zugleich sein kann, wird in diesem Aufsatzband pneumatologisch beantwortet. Er geht auf eine interdisziplinäre Tagung aus dem Jahr 2021 in Schwerte zurück, von der sich hier vor allem katholische Beiträge finden; aber auch drei evangelische Beiträge (von elf) bereichern den Band, der sich auch in inhaltlicher Hinsicht ökumenisch offen zeigt (am ausdrücklichsten bei Klaus von Stosch, 200).

Trotz aller Varianten sind sich alle Autoren darin einig, dass die gottmenschliche Einheit Christi geistchristologisch zu beantworten ist. Dies sei sowohl bibelhermeneutisch begründet (Eve-Marie Becker 110ff; Marco Hofheinz 267 f.) als auch trinitätstheologisch (Dahlke 78; Langenfeld 132) und anthropologisch richtig (»Chris-tologie von unten«, Hans-Peter Großhans 39; von Stosch 197). Vor allem aber sei dieser Zugang freiheitstheoretisch zwingend, das heißt, nur so könne der freie Gehorsam Jesu mit der göttlichen Freiheit zusammenbestehen: »Der angesprochene Mensch […] ist […] qua Möglichkeit des Hörens zugleich Subjekt des Offenbarungsgeschehens« (Langenfeld 128, Herv. A. L.). An einem adäquaten Freiheitsbegriff soll sich also die christologische Grundaussage der Gott-Mensch-Einheit Christi bewähren.

Hintergrund fast aller katholischen Beiträge ist Karl Rahners Proportionalitätsaxiom, wonach die göttliche Freiheit in einer sich wechselseitig bedingenden Beziehung zur menschlichen Freiheit steht (z. B. Bernhard Nitsche 229). Das Buch bietet somit nicht nur geistchristologische Antworten, sondern stellt auch Konzepte einer theologischen Freiheitstheorie vor, wenn auch fokussiert auf Rahners Grundlegung.

Pneumatologisch ist das Proportionalitätsaxiom, weil es Freiheit als eine geschichtliche Entwicklung versteht und weil zu dieser Entwicklung die Freiheitsentfaltung Gottes proportional im Verhältnis steht. Die bekannten Aporien des Naturenbegriffs in der Zwei-Naturen-Lehre (Dahlke 73; Hofheinz 257) lassen sich vermeiden, wenn an seine Stelle die geschichtliche Entfaltung der Göttlichkeit Jesu durch das Geistwirken tritt. Nitsche spricht von einem »schrittweise[n] Hineinwachsen in die Gottes-Intimität« (239). Die Vermittlung der Proportionalität göttlicher und menschlicher Freiheit ereignet sich nicht unmittelbar, sondern geistvermittelt (Sarah Rosenhauer 150f; darstellend Dahlke 85, Langenfeld 130, Nitsche 228 f.). Die evangelischen Autoren äußern sich zu Rahners Axiom nicht, auch wenn nach Hofheinz »eine Geistchristologie […] die Inspiration nicht gegen die Inkarnation ausspielen« dürfe (269; ähnlich Josefa Woditsch 331). In diesem Punkt scheinen sich auch die übrigen Autoren einig zu sein, dass Logos und Pneuma, Inkarnation und Inspiration, Präexistenz Christi und geschichtliche Freiheitsentwicklung sich nicht widersprechen. Der konsequente Gegenentwurf Roger Haights, der die Gottheit Jesu allein aus der Geisteinwohnung herleitet, die nur graduell von der Einwohnung in anderen Menschen unterschieden ist, wird dagegen als soteriologisch unterbestimmt (Nitsche 232, Hofheinz 272) und als »pluralistische Schlagseite« (Dockter 305) weithin zurückgewiesen – ebenso wie auf anderer Seite eine Christologie der »Geistvergessenheit« (Ursula Schumacher 18.24).

Wenn das Proportionalitätsaxiom grundsätzlich anerkannt ist, auch zur Bestimmung der Gottmensch-Einheit Christi und als deren pneumatologische Entfaltung, dann kreist die Kontroverse nur um ihre freiheitstheoretische Konkretion: Wie verhält sich erstens die transzendentale Ermöglichung von Freiheit zu Rahners »kategorialer« (existenzieller) Entfaltung im Leben Jesu, ohne dass doch wieder eine heteronome Grundierung von Freiheit unterstellt wird? Und wie kann zweitens die soteriologische Einzigartigkeit Jesu angenommen werden, wenn das Proportionalitätsaxiom schon anthropologisch auf eine »Substitution ontologischer durch personologische Kategorien« zutrifft (Schumacher 32; Woditsch spricht davon, dass Geistchristologien das universale Heilswirken des Geistes »inklusivistisch aufzusprengen« versuchen, 329)?

Rosenhauer, deren Artikel wie der Nitsches deutlich umfangreicher ist, bietet zur Lösung auf das erste Problem ein Anerkennungsmodell retroaktiver Freiheitssetzung an (172f, 178f), um ein Herrschaftsmodell der Freiheitskonstitution (149) auszuschließen: »Gott nicht im Sinne quasi-dinglicher (Letzt)Ursächlichkeit immanenter Zustände und Ereignisse, sondern als Abschlussgedanke menschlicher Subjektivität« (151). Ich stimme zu, dass das Phänomen der Retroaktivität eine sich selbst voraussetzende Freiheit erklärt. Allerdings scheint bei Rosenhauer auch die Retroaktivität noch im Muster der Kausalität gedacht zu werden, nur unter zeitlich umgekehrten Vorzeichen. Der entscheidende Vorzug einer retroaktiven Phänomenologie liegt meines Erachtens aber darin, dass damit eine andere Kategorie (im aristotelischen, nicht in Rahners Sinne) eingespielt wird: Indem Freiheit als Widerfahrnis auftritt (175, 178), entzieht sich dieses einer kausalen Kette, weil das Widerfahrnis kategorial auf einer anderen Ebene liegt als Gehalte. Spuren einer solchen kategorialen Unterscheidung von Widerfahrnis und Gehalten zeigen sich in Rosenhausers Beitrag durchaus: »Denn das, was […] missverständlich als Gehalt bezeichnet wird, ist ja nicht ein dinglicher Gehalt, sondern […] gedacht als andere Freiheit, die Freiheit bejaht« (162). Dann aber ist die transzendental-retroaktive Ermöglichung von Freiheit kein heteronomes Bestimmungsverhältnis, weil der »Zwang« dahinter nicht im kausal-determinierenden Sinne und damit nicht auf derselben kategorialen Ebene gemeint ist.

Die zweite Frage nach der soteriologischen Sonderrolle Christi kann nach meinem Eindruck geistchristologisch nicht losgelöst vom soteriologischen Effekt diskutiert werden: Vorausgesetzt nämlich, dass das Heil in der Geistgabe liegt, hebt sich das scheinbare Problem von Großhans auf, »ob denn Gottes Schöpfungswerk oder Gottes Erlösungswerk nicht jeweils durch es selbst so überzeugt« (41), dass es dazu einer geistlichen Vermittlung nicht mehr bedürfe. Denn wenn das Erlösungswerk in der Geistgabe besteht, so ist die Selbstvermittlung des Heiligen Geistes zu- gleich eine Gewissheit des Erlösungswerks »durch es selbst«. (Diese Selbstevidenz ist übrigens derselbe »Zwang« wie oben und darf nicht als Herrschaft interpretiert werden.) Eine ähnliche Pointe setzt Nitsche mit der These, dass Gott den Unterschied zwischen Schöpfer und Geschöpf »selbst setzt, weil er dieser Unterschied selbst ist« (233, Herv. B. N.): Die Unmittelbarkeit dieses Unterschieds ist dann zugleich geistvermittelt. Daraus aber lässt sich soteriologisch schließen, dass die Differenz zwischen Christus und allen anderen Menschen pneumatologisch nur graduell ist (gegen Hofheinz 272). Und damit lässt sich Woditschs Anspruch einlösen, das universale Heilswirken des Geistes »inklusivistisch aufzusprengen«. Der angebliche Graben zwischen Geistchristologien, die den Lehrbestand lediglich pneumatologisch ergänzen, und Geisttheologien, die ihn wie Haight ersetzen (322), ist dann deutlich kleiner als angenommen. Die Sonderrolle Christi ist zwar »faktisch als verlässlich« (Dockter 314, Herv. C. D.), aber dann als hermeneutischer Schlüssel des Heils zu interpretieren.