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Ausgabe:

Juni/2023

Spalte:

613-616

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Steinbart, Gotthilf Samuel

Titel/Untertitel:

System der reinen Philosophie oder Glückseligkeitslehre des Christentums. Vier Auflagen: 1778–1794. Bibliothek der Neologie. Kritische Ausgabe in zehn Bänden. Band VIII. Hgg. v. Marco Stallmann.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2022. LXI, 413 S. Lw. EUR 159,00. ISBN 9783161616617.

Rezensent:

Walter Sparn

Die Bibliothek der Neologie (BdN) präsentiert mit der Hybrid-Edition von Steinbarts Hauptwerk ein wichtiges Dokument der selbstbewussten, als überlegen auftretenden theologischen Aufklärung. Dem Konzept A. Beutels folgend orientiert die Einleitung (IX– XXXIX) lebens- und werkgeschichtlich über Steinbart, über die Genese seiner Glückseligkeitslehre, auch im Kontext der patriotischen Verknüpfung von Religion und Staatszweck, und über die Wechselbeziehungen mit Zeitgenossen, unter denen J. G. Töllner, W. A. Teller und J. S. Semler positiv hervorragen. Es folgen (XLI–LIX) editorische Hinweise, Siglen und zwei textkritische Apparate zum Leittext, der zweiten Auflage (1780, »b«). Die Abweichungen von »b« gegenüber »a« (1778) bzw. von »c« (1786) und »d« (1794) gegenüber »b« lassen die Reaktionen Steinbarts auf die von ihm ausgelöste Diskussion erkennen. Sie theologisch und philosophisch zu kontextualisieren, erlauben die weit und verlässlich ausgreifenden »Erläuterungen« zu den Verweisen und Anspielungen auf Personen, Ereignisse und Quellen (341–391), vollständige Bibelstellen- und Personenregister (nicht auch der Erläuterungen) sowie ein klug angelegtes Sachregister (393–413).

Der Professor in Frankfurt/O. widmet das Buch seinem »gnädigen Chef« und »Chef der Kirchen«, den mit der »Fürsorge für den Geist der Nation« beauftragten Staatsminister Carl Abraham Freiherr von Zedlitz (7–9). Die »Anrede an das lesende Publikum« (13–23) wendet sich direkt an die Öffentlichkeit: Selbstdenker, Suchende, aber auch »Freunde des Kirchensystems«. Programmatisch erzählt Steinbart seine religiöse Biographie, die streng pietistisch beginnt, und plakatiert sein Ziel, den jetzt erkannten »Geist der Religion Jesu« und die Übereinstimmung des Christentums mit dem »Plan Gottes in der Natur« aufgrund des protestantischen Schriftprinzips für die religiöse Praxis zu erklären. Die 1680 fortgesetzte Anrede (25–43) erläutert: »Ein System der Christenthumsphilosophie ist also ein solcher bündiger Vortrag der von Christo ertheilten Anweisungen zu höherer menschlicher Glückseligkeit, woraus derselben innere Wahrheit und hinlängliche Vollständigkeit, unabhängig von Geschichte, deutlich erkant werden kann.« (26, kursiv orig., ebenso § 84) Anders als noch sein Mentor J. G. Töllner bedient er sich nicht des jetzt unwirksamen »systematischen« Vortrags Ph. Melanchthons oder Chr. Wolffs, sondern des dogmenkritischen »historischen« Vortrags, der Weiterforschen und die Bildung eines eigenen Lehrgebäudes befördert. Seine »Philosophie des Christen-thums überhaupt und nicht des Lutherthums« (40) fordere keineswegs, Kirchensysteme und symbolische Bücher abzuschaffen, sondern leite zu vertrauensvoll heiterer Gemütsruhe und lebendiger Sittlichkeit an. Die Anrede 1786 weiß, dass die Glückseligkeitslehre die »schärfste Erfahrungsprobe« bestanden hat, stellt angesichts der Debatten um die Wolfenbütteler Fragmente oder um C. F. Bahrdt und I. Kant aber auch fest, dass sich die Leser-Bedürfnisse verändert haben. Den Unbefangeneren empfiehlt er dennoch seinen »schlichten graden Mittelweg zwischen metaphysischer Spekulation und dunklem Glauben« (46).

Vor dem Hintergrund spekulativen oder mystischen Verfalls der Theologie nach der »erhabensten Simplicität« der »Gesundheitslehre Jesu« und auch nach der Verbesserung des Lehrbegriffs durch die Reformatoren (49–54) beschreibt der 1. Abschnitt (55–65) populär-leibnizianisch als die Empfindung »höhere Glückseligkeit«, die sinnliches Glück übersteigt: Ein endlicher Geist ist umso seliger, je lebhafter und dauerhafter er sich in anschauender Vorstellung »des wachsenden Uebergewichts der Vollkommenheiten seines gesamten Zustandes bewußt ist« (§ 5, § 8). Hierfür darf man »Von der Empfänglichkeit und den Anlagen der Menschen zur Seligkeit«, ausgehen, die der 2. Abschnitt (67–93), wie die zeitgenössische »Erfahrungsseelenkunde«, der gesellschaftlichen Natur und moralischen Freiheit zuschreibt. Das moralische Vergnügen erreicht seinen höchsten Grad, wenn sich reine Religionsbegriffe damit verbinden, nämlich »daß wir uns dem höchsten Wesen wohlgefällig und ähnlich gemacht, und dadurch unsere höhere Wohlfahrt auf immer gesichert haben: denn hier eröffnet sich uns eine Aussicht auf gute Folgen ohne Ende […] Daher kann der Gerechte auch im Unglück getrost und heiter sein« (§ 17,5). Weil die Grade der Glückseligkeit von der Moralität der Gesinnung abhängen, muss man innere Schranken und äußere Hindernisse schnellen moralischen Fortschritts kennen, legt der 3. Abschnitt dar. Sie zu verringern, ist Aufgabe der erfahrungsgestützten häuslichen und öffentlichen Pädagogik, deren Nutzen sich daran bemisst, wie gut sie von Vorurteilen befreit und alle ängstigende Begriffe willkürlicher Gesetze und Strafen Gottes vertilgt (95–110).

Eben dies ist ein Hauptzweck der christlichen Religion und speziell der »Glückseligkeitslehre Jesu«, die der 4. Abschnitt (11–135) daher passgenau auf unsere natürlichen Anlagen zur Glückseligkeit auch über den Tod hinaus und unser natürliches Unvermögen bezieht, uns von selbst zu deren höheren Graden zu erheben. Trennt man philosophische Eintragungen ab, so trägt sie, mit unüberbietbarer Autorität und immer anwendbar, »eine vortrefliche und vollständige Moral auf eine jedermann faßliche Art vor« ( § 33). Diese verstärkt die natürlichen Beweggründe des Wohlverhaltens und fügt ihnen neue Motive hinzu, »bey deren rechten Gebrauch wir unfehlbar immer seliger werden müssen«. Das anstrengende aber auch veredelnde Gebet, »in dem ich mich im unmittelbaren Verhältnis mit Gott denke«, vergewissert des beständigen Wachstums meiner Vollkommenheiten« (§ 38). Diese nach lutherisch-orthodoxen Maßstäben häretische Soteriologie bekräftigt der 5. Abschnitt (135–238) mit einer detaillierten Demontage des »afrikanischen Systems« Augustins (Erbsündenlehre, Entgegensetzung von Glaube und Werken, Natur und Gnade), deren niederdrückende Folgen noch andauern. Die seit den Reformatoren, die immerhin »magische Schwärmereyen« ablehnten (§ 48), angestoßene bessere Schriftauslegung hat auch die anselmische These der aktiv stellvertretenden Genugtuung Christi widerlegt und das größte Hindernis für die Anerkennung der Göttlichkeit seiner Lehre beseitigt (§§ 56–66). Klarer als J. G. Töllner (Der thätige Gehorsam Jesu Christi, 1768) und J.A. Eberhard (Neue Apologie des Sokrates, 1772/7) bindet Steinbart die Strafgerechtigkeit Gottes strikt an den Strafzweck der Besserung. Aus der heilspädagogischen »Ordnung« von Glaube und Werken folgen die therapeutische Rolle der Predigt und die katholisch-protestantische Ökumene (§§ 67–79).

Der 6. Abschnitt (239–339; in »a« §§ 80–90, in »b« bis § 98) soll zeigen, dass das reine System der Anweisung Christi zur Glückseligkeit auch nach 1800 Jahren ohne transzendente Beweise »durch seine innre Uebereinstimmung und seine genaue Angemessen-heit zu unsern Bedürfnissen und Wünschen« als göttliche Wahrheit einleuchtet (Einl. S. 54). Steinbart formuliert nun ein solches reines System ohne alle menschliche Lehrmeinung und ohne die sinnliche Einkleidung, deren der »große Haufe« noch immer bedarf (§§ 81–84, § 98). Dieser Vortrag muss allerdings, wie schon die Einleitung und § 40 betonten, zwei Klassen von Adressaten unterscheiden (ein Problem auch von Philosophen wie I. Kant). Sodann zeichnet Steinbart einen »Situationsplan« der Denkarten und Vorkenntnisse der Juden und anderer Völker zur Zeit Christi und der Apostel (§ 85–90). Diese Historisierung ergibt, dass das Neue Testament nicht nur einen, sondern situationsangepasst viele verschiedene Wege zu höherer Glückseligkeit eröffnet. Völlige Einförmigkeit der Lehre ist nie zu erwarten, weil alle Kirchensysteme einen biblischen Grund haben; ihre Mehrzahl ist eher nützlich als schädlich, wenn sie nur ohne »Religionshaß« den »göttlichen Geist der Liebe« wirken lassen (§ 97). Unsere »Bedürfnisse und Wünsche«, nicht die analogia fidei, sind also der hermeneutische Schüssel zum Neuen Testament (§ 80, § 91). Freilich macht das Postulat toleranter Pluralität die Beziehung zum Judentum zweifelhaft, weil das Alte Testament lediglich als historische Größe zu stehen kommt. Steinbart spielt auch auf G. E. Lessings religiöse Universalgeschichte an, die das Judentum als Phase der göttlichen Erziehung des Menschengeschlechts (1780) vor Christus versteht (z. B. § 87, § 96).

Beide Ambivalenzen stellt die Einleitung des Herausgebers zurecht als schwerwiegend heraus (IX–XXXIX). Er stellt der weiteren Forschung aber auch die Aufgabe, Steinbarts Religionskonzept als Motivation sowohl für den auf »Offenbarung« verzichtenden Rationalismus (C. F. Bahrdt) als auch für den positivistisch auf »Offenbarung« setzenden Supranaturalismus (F. V. Reinhard) und den religiösen Antirationalismus (J. C. Lavater) zu rekonstruieren und den Metamorphosen in I. Kants Religions- und J. G. Herders Kulturphilosophie sowie in der katholischen Aufklärung nachzugehen. Wie schon in der Edition von J. J. Griesbachs »populärer Dogmatik« von 1779 (BdN Bd. III, vgl. ThLZ 145 [2020®, 562 ff. [Rezension durch M. Wriedt]; RJKG 40, 311–313) hat er dafür einen vielsagenden Text und eine enorme Materialfülle bereitgestellt.