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Ausgabe:

Juni/2023

Spalte:

608-610

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Hernández Maturana, Cristián

Titel/Untertitel:

Substantialität, Individualität, Präexistenz und Fortdauer der Menschenseele. Grundzüge von Immanuel Hermann Fichtes philosophischer Anthropologie. M. e. Vorwort v. F. Beiser.

Verlag:

Baden-Baden: Karl Alber Verlag (Nomos) 2022. 374 S. = Alber Thesen Philosophie, 83. Kart. EUR 79,00. ISBN 9783495492321.

Rezensent:

Folkart Wittekind

Das Buch bietet eine philosophische Dissertation, die in einem Cotutelle-Verfahren zugleich an der Päpstlich-katholischen Universität von Chile und an der Universität Hildesheim angenommen wurde. Auf deutscher Seite war der Philosoph Harald Schwaetzer für die Betreuung zuständig. M. verwendet Schwaetzers Monographie über den (von I. H. Fichte abhängigen) spätidealistischen Philosophen Gideon Spicker, der für Rudolf Steiner wichtig war. Auch I. H. Fichtes philosophisches Erbe wurde im 20. Jahrhundert mit starker Verbindung zur Anthroposophie durch Hermann Ehret verwaltet. Der Nachlass Ehret mit den Vorbereitungen für nie verwirklichte Editionen zu I. H. Fichte (von Briefen, Tagebüchern und Schriften), den der Verf. vielfältig nutzt (lesenswert die Briefe I.H. Fichtes an Charlotte von Kalb), wird in der Steiner-Bibliothek in Stuttgart aufbewahrt. M. beansprucht, dass die idealistische Anthropologie Fichtes auch heute angesichts materialistischer Lebenseinstellung ein besseres Bild vom Menschen begründet. Dazu stellt er sich die Aufgabe, über die Sekundärliteratur hinaus den systematischen Gesamtzusammenhang von I. H. Fichtes Unsterblichkeitsbeweis für die Seele darzustellen (21–50).

Das zweite Kapitel (51–100) ordnet I. H. Fichte in die Philosophiegeschichte (des Spätidealismus) ein und sichtet die vorhandene Literatur zu diesem Thema. M. beansprucht, I.H. Fichte als eigenständigen anthropologischen Denker unter dem methodischen Leitbild einer idealistisch grundierten »überlegeneren Erfahrung« (68) zu profilieren. Denn I. H. Fichte rezipiere Kant, aber grundsätzlich anders als in der neukantianischen Ausdifferenzierung von naturwissenschaftlicher Methode und erkenntniskritischer Selbstreflexion. Vorausgesetzt wird mit dem Idealismus die Einheit von Natur und Geist. Nur so sei Philosophie als »Vermittlung und Versöhnung« (70) zeitgemäß, gegenwartskritisch und lebensdienlich. I. H. Fichtes christlich-platonische Anthropologie, die metaphysische Seelenlehre und die spekulative Kantrezeption werden unkritisch aufgenommen. Ausgehend von den in der Sekundärliteratur (besonders von W. Jaeschke) dargestellten Streitfragen in der Philosophie des 19. Jahrhunderts verwendet M. vier Themen, um die Eigenart von I. H. Fichtes Philosophie wie auch des Spät-idealismus aufzuzeigen. Diese sind historisch breit gestreut: M. beginnt mit dem Streit um die göttlichen Dinge zwischen Jacobi und Schelling von 1811/12 und behauptet als Lösung ein »reales Erkennen« des göttlichen Grundes im Aufstieg von der Welt als einem »auf Erfahrung beruhenden Erkenntnisweg« (63). Dann die Frage nach der Philosophie selbst zwischen 1840 und 1860 – hier meint M., mit I. H. Fichte die Einheitsphilosophie auf einen spekulativ erweiterten Erfahrungsbegriff gründen zu können. Auch der Materialismusstreit der 1850er Jahre soll mit dem Hinweis auf »höhere Einheitsprinzipien« beigelegt sein, weil aus diesen Einheitsprinzipien auch (das berechtigte Moment des Materialismus aufnehmend) die Körperlichkeit des Geistes bzw. die »reale Beziehung der Seele zum Raum« (76) abzuleiten sei. Schließlich wird noch auf I. H. Fichtes Einlassungen zum Darwinismusstreit eingegangen. Hier zeigt sich das Problem der Vorgehensweise: M. lässt die Aussagen der Texte einfach stehen. Er referiert ausführlich die verschiedenen Aspekte von I. H. Fichtes Kritik an der Frühform der Evolutionslehre. Aber was soll man heute damit anfangen? Teilt M. die Kritik? Wenn nicht, warum nicht? Das wüsste man an dieser Stelle doch gern. Relativiert nicht eine falsche Kritik die Denkvoraussetzungen? Wie verhält sich an dieser Stelle die versuchte Affirmation I. H. Fichtes als eines »kühnen« (70 u. ö.) Denkers mit den inhaltlichen Schwierigkeiten? Gerade wenn der Spätidealismus als philosophische Alternative aufgebaut werden soll, müsste doch hier eine begründete inhaltliche Auseinandersetzung mit dem »modernen« darwinistischen Denken erfolgen. Die wiederholte Behauptung, es zeige sich in diesen Auseinandersetzungen die Aktualität von I. H. Fichtes Philosophie, bleibt so hohl. Da hilft auch nicht die mehrfache Absicherung, Fichtes Philosophie müsse erst einmal in einen Gesamtprospekt des Spätidealismus eingeordnet werden, was aber »die Grenzen vorliegender Arbeit weit überschreiten« (90) würde. Köhnke hat gezeigt, wie das geht.

Am Ende dieses Teils kommt M. zu einer eigenen Charakteristik des Spätidealismus, die in weiten Teilen das Ergebnis der späteren inhaltlichen Darstellung I. H. Fichtes (vgl. die »Konklusion« 339–342) wiederholt: 1. Einheit von Denken und Sein als »Vernunfteinheit des Universums« (97), 2. Anthropozentrischer Erkenntnisstandpunkt, von dem aus Metaphysik weiter möglich ist, 3. Rezeption der kantischen Kritik, insofern Erkenntnis von der Erfahrung aufsteigen soll, 4. Aufstieg von der Selbst- zur Gotteserkenntnis, die das religiöse Bewusstsein und das Heilsbedürfnis des einzelnen Menschen befriedigt. Dies bleiben inhaltliche Beschreibungen, die weder kritisch dargestellt noch in ihrer Funktion für das philosophische (oder theologische) Denken analysiert werden. Sie unterscheiden sich wenig von dem, was seit Eucken und Leese immer wieder über den Spätidealismus gesagt worden ist, und sie verraten nichts über die Stellung der »Individualität« der Seele, die es ja eigentlich zu begründen gilt. Modernisierungsbezogene, sozialwissenschaftliche, diskurskritische und sonstige Fragen heutiger Wissenschaftsgeschichtsschreibung bleiben unberücksichtigt.

Die Durchführung geschieht in zwei Kapiteln, deren erstes sich den Erkenntnisbedingungen der Philosophie (100–212) widmet, während das zweite dann der eigentlichen »philosophischen Anthropologie« und den im Titel genannten Stichwörtern gilt (213–338). M. bezieht Briefe I. H. Fichtes ein, um den existentiellen Sinn seines Philosophierens über den Menschen herauszustellen. Der Rest ist Referat, methodisch verkleidet als close reading nach dem principle of charity (48), wobei sich M. über weite Strecken auf die Erkenntnistheorie von 1833 und auf die Anthropologie von 1856 und ihre dritte Auflage von 1876 stützt und weitere Textstellen aus dem Gesamtwerk eklektisch einbaut. Probleme gehen unter. Als Beispiel sei die Ableitung und Begründung der Individualität im bzw. aus dem allgemeinen Geist genannt, für die M. in der Einleitung (37) eine Erklärung verspricht: Der entsprechende Textabschnitt (285–288) referiert I. H. Fichte und seine Behauptungen textlastig und ohne jede Prüfung. »Entselbstet« oder »individualisiert« sich der Geist als das Allgemeine? Begriffe fallen wie »Persönlichkeit« und »Idee der Persönlichkeit«, »menschlicher Geist« (oder »menschliches Bewusstsein«) und »individueller Geist«, »geistig individualisiertes Wesen« – wie ist die behauptete Begründung gedacht, die bei dem Zitat stehenbleibt, Individualisierung sei »die allerursprünglichste Mitgift aus der vorbewußten Region«?

Die Erklärungskraft des Buches ist gering. Ein Lektorat wäre angeraten gewesen (z. B. fast überall »trotzt« statt »trotz«). Wer I. H. Fichte kennenlernen will, sollte ihn besser selbst lesen. Eine werkgenetische Rekonstruktion unter Berücksichtigung der jeweiligen Debattenlage zwischen 1826 und 1876 wäre noch zu leisten. Als kurze Zusammenfassung und Einordnung empfiehlt sich immer noch Hirschs Geschichte der neuern Theologie (Bd. 5, 274–281): Nach seiner wirklich liebevollen (principle of charity!) Darstellung kommt Hirsch zu dem Schluss, dass sich I. H. Fichtes Denken trotz aller Hegelkritik und den erkenntniskritischen Modernisierungsversuchen dem Verdacht aussetze, »in freien phantastischen Gedankendichtungen ohne verläßliche Unterlage sich zu ergehen«. Dieser Verdacht ist in der Sekundärliteratur immer wieder bestätigt worden. Es gelingt M. an keiner Stelle, ihn zu widerlegen.