Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juni/2023

Spalte:

603-604

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Opalka, Katharina

Titel/Untertitel:

Narrativität und Performanz der Demut. Metatheoretische Reflexionen zur Funktionalität anhand einer Relecture der Theologie Albrecht Ritschls.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2021. XII, 362 S. = Dogmatik in der Moderne, 37. Bd. EUR 104,00. ISBN 9783161610745.

Rezensent:

Arnulf von Scheliha

Die von Cornelia Richter betreute Dissertation von Katharina Opalka, die im Zusammenhang mit dem Bonner DFG-Projekt »Resilienz in Religion und Spiritualität« entstanden ist, zeigt auf exemplarische Weise, wie produktiv interdisziplinäre Diskurse auf theologiegeschichtliches Verstehen und dogmatisches Denken zurückwirken können. Dies ist schon deshalb bemerkenswert, weil sich die dogmatisch gesättigte und gut erforschte Theologie Albrecht Ritschls auf den ersten Blick einem solchen Zugriff gegenüber spröde verhält. Aber O. gelingt es in ihrer Monographie auf überzeugende Weise, die Grundentscheidungen Ritschls zu erhellen und mit Blick auf die Demut in gegenwartsorientierter Weise fruchtbar zu machen.

Die Arbeit ist in fünf Teile gegliedert. In »I. Einleitung« trägt O. einige grundlegende Unterscheidungen vor, die ihre Plausibilität vor dem Hintergrund der genannten interdisziplinären Diskurse gewinnen. Sie greift einerseits den system- und religionstheoretisch bewährten Begriff der Funktion auf, der auch im teleologischen Denken Ritschls eine unabweisbare Bedeutung hat. Dem stellt O. den Begriff der A-Funktionalität gegenüber, der die für das theologische Denken profilgebende Dimension des Unverfügbaren markiert, wie sie für den Gottesbegriff oder für die Gebetserhörung charakteristisch ist. Anders: Religion funktioniert, wenn ihre A-Funktionalität wirkt. Dieser Zusammenhang kann jedoch nur situativ erschlossen werden, daher ist »Situativität« die dritte Leitkategorie, die Vfn einleitend aufbietet und abschließend zur leitenden Fragestellung verdichtet: »Welche Funktionen werden in welchen momentanen situativen Verfasstheiten von kollektiven Größen und einzelnen Individuen in der Bezugnahme auf A-Funktionales erwartet, erfahren oder auch nicht erfahren?« (21)

In Teil II präsentiert O. eine eingehende Sichtung des aktuellen Forschungsstandes, aus dem sie ihren eigenen Zugriff ableitet. Gegenüber den primär bisher dominierenden problemgeschichtlichen bzw. religionsphilosophisch oder systemorientierten Deutungen »fokussiert die vorliegende Arbeit auf die Art und Weise, wie Ritschl die Theologie als relevant für die Gemeinde konstituiert. Es bleibt ein Desiderat der Ritschl-Forschung, die Relevanz der Dogmatik in Ritschls Theologie für die (situative) Lebenswirklichkeit der Menschen im 19. Jahrhundert im Rahmen der […] sich verändernden kirchlichen Landschaft zu entfalten« (62). Es geht O. darum zu analysieren, »wie Ritschl die Theorie als anschlussfähig für die Praxis betreibt« (63). Zur Operationalisierung dieses Vorhabens kombiniert O. aktuelle Narrativitäts- und Performancetheorien, die »den Theorierahmen für die Relecture der Ritschl’schen Theologie« (99) liefern. In ihr will O. zeigen, welche Funktion narrativ vermittelte »theologische Gehalte für eine kollektive Größe, nämlich die Gemeinde, haben können« (99), ohne dass die Erfahrungen darauf reduziert werden können. Deren A-Funktionalität wird durch ihre performanztheoretische Interpretation sichergestellt.

In Teil III analysiert O. mit ihrem methodischen Instrumentarium zunächst den merkwürdigen Ausgangs- und Zielpunkt von Ritschls Theologie, nämlich den »Standpunkt der Gemeinde« einerseits und das »Reich Gottes« andererseits. Sie schlägt eine neue Zuordnung der Größen »Gemeinde«, »Kirche« und »Reich Gottes« vor. Die Kirche versteht sie »als eine momentane situative Verfasstheit der Gemeinde […], die als kollektive Größe auf Situativität bezogen ist und über diese in bestimmte historische Kontexte eingebettet ist« (125). Konkret realisiert sich die Kirche in der gottesdienstlichen Gemeinschaft. Sie repräsentiert die jeweilige Existenzform der Gemeinde auf ihrem Weg zum Reich Gottes. Die Kirche ist der Ort, an dem die Transformationen in Frömmigkeitspraxis und theologischer Lehre wirklich werden, die ihre Fluchtlinie im »Reich Gottes« haben. Die Gemeinde ist Subjekt der funktional-situativen Interpretation der im »Reich Gottes« gespeicherten a-funktionalen Narrative. Dies führt O. dann materialdogmatisch an der Gotteslehre, Christologie und Anthropologie durch. Sie zeigt, dass Ritschl in seiner funktional-situativen Interpretation der a-funktionalen Narrative die (kollektive) Erfahrung der Gemeinde ebenso wie diejenige des Individuums theologisch dicht an existenzphilosophische Überlegungen avant la lettre heranführt, für deren Abgründigkeit ihm letztlich aber Gespür und Begriffe fehlten.

Dieser Ertrag wird in Kapitel »IV. Demut« zunächst vertieft. O. interpretiert Ritschls originelles Verständnis der religiös-sittlichen Tugend der Demut als »situationsangemessene Korrelation von in der Welt gemachten Erfahrungen und dem Narrativ des Reiches Gottes, die gerade dadurch zum Handeln ermutigen kann, dass sie nicht jede momentane situative Verfasstheit als existentiell bedrohlich wahrnimmt« (233). Zutreffend pointiert O., dass mit Ritschl die »Demut aus funktionaler Perspektive als dasjenige religiöse Phänomen profiliert werden [kann], das über die Komplexität des Bezuges auf a-funktionale Narrative die Möglichkeit der Integration von Materialdogmatik und Anthropologie bietet« (235). Diese Spur verfolgt O. in einem Forschungsüberblick zum theologischen Demutsdiskurs von Wilhelm Herrmann bis in die Gegenwart. Dass Ulrich Barth in seiner ebenfalls 2021 publizierten Dogmatik »Symbole des Christentums« der »Demut« eine tragende Bedeutung zumessen würde, konnte O. nicht wissen. Entscheidend ist, dass sie »ergänzend zum emotions- und tugendethischen Diskurs die Demut nicht als Haltung, sondern vielmehr als christliche Praxis profilieren möchte« (249). Dabei zieht O. nun die Performance-Theorien heran, unterscheidet zwischen perfomance und Performanz der Demut und trägt eine eingehende Analyse der Funktion der Demut unter der Bedingung der A-Funktionalität vor, die in Praxis der Demut »selbstreflexiv« (304) wird.

In Kapitel »V. Narrativität und Performanz der Demut« bündelt O. ihre zum Teil hochkomplexen Überlegungen und trägt erhellende Konsequenzen zur Ekklesiologie und zum Gottesdienstverständnis vor. Besonders interessant wird es dort, wo O. den Blick noch einmal auf Ritschls Texte richtet und deutlich macht, dass dieser stets dort »das Sprachspiel wechselt« (318), »wo die A-Funktionalität konstitutiver Bestandteil der Theoriebildung wird« (ebd.) und die theologische Reflexion situativ angepasst werden muss. Ritschls oftmals überraschend eingestreuten religiösen Spitzensätze gewinnen durch ihren plötzlichen Wechsel des Sprachspiels »selbst performative Qualitäten« (ebd.), indem sie das darstellen, wovon sie sprechen. Ob sich diese performance den künftigen Ritschl-Interpretinnen und -Interpreten als Performanzerfahrung mitteilt, wird der weitere Diskurs um dessen Theologie zeigen, der durch diese Monographie erheblich bereichert worden ist.