Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juni/2023

Spalte:

596-600

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Jantzen, Matt R.

Titel/Untertitel:

God, Race, and History. Liberating Providence.

Verlag:

Lanham: Lexington Books/Fortress Academic 2022. 224 S. Kart. US$ 39,99. ISBN 9781793619570.

Rezensent:

Margit Ernst-Habib

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Fergusson, David: The Providence of God. A Polyphonic Approach. Cambridge u. a.: Cambridge University Press 2018. XII, 377 S. = Current Issues in Theology, 11. Geb. £ 90,00. ISBN 9781108475006.


Dass Krisenerfahrungen die Lehre von der Vorsehung Gottes in besonderer Weise herausfordern und ihre Relevanz für Seelsorge, Homiletik und Liturgie nachdrücklich in den Vordergrund rücken, ist eine Beobachtung, die nicht erst seit den globalen Krisen der letzten Jahre Gültigkeit hat. Schon das verheerende Erdbeben von Lissabon im Jahr 1755 hatte in der zeitgenössischen europäischen Philosophie und Theologie zentrale Fragen zum Handeln Gottes in der Welt und seiner Rechtfertigung angesichts des Übels in das Zentrum des Diskurses gestellt. Die Krisen des Ersten und Zweiten Weltkrieges sowie die Shoah trugen dann ihren Teil dazu bei, dass die ehemals so bedeutsame Vorsehungslehre in großen Teilen zu einem »vergessenen Stiefkind der Gegenwartstheologie« (Gilkey) wurde, während sie gleichzeitig in Frömmigkeit und sogar in säkularen Denkformen weiterhin präsent blieb. Seit spätestens den 50er-Jahren des letzten Jahrhunderts herrscht nahezu allgemeine Übereinstimmung, dass sich die Vorsehungslehre selbst in einer Krise befindet und dass die Systematische Theologie weiterhin herausgefordert ist, ein theologisches Verständnis des Handelns Gottes in und an der Welt zu entwickeln, das nicht nur in den Krisen der Gegenwart zum kritischen und selbst-kritischen Impuls für Theologie, Kirche und Glaubensleben werden kann, sondern die biblisch zentrale Botschaft vom handelnden Gott in Beziehung zu dem Gesamten der Systematischen Theologie setzt. Zwei neuere Beiträge aus dem englischsprachigen theologischen Diskurs nehmen diese Herausforderung auf ihre je spezifische Weise an, überzeugt davon, dass die Vorsehungslehre nicht nur ein essenzieller und ohne große Verluste nicht zu ignorierender Teil christlicher Tradition ist, sondern dass sie sogar als Grundlage für eine befreiende kirchliche Theologie und Praxis dienen kann.

Der US-amerikanische Theologe Matt R. Jantzen stellt in seiner Dissertation God, Race, and History. Liberating Providence die Vorsehungslehre ganz bewusst in den eigenen amerikanischen Kontext der Gegenwart, der sich aber sofort auch zu dem Kontext europäischer Theologie und Philosophie weitet. Im Blick auf den allgemein konstatierten »state of crisis« der Vorsehungslehre fragt er pointiert nach, aus wessen Perspektive der Kollaps der Vorsehungslehre und der Bedarf nach einer Rekonstruktion derselben attestiert wird und warum das unsägliche Leid, das insbesondere die europäischen, christlichen Kolonialmächte im Namen der Providenz Gottes über nicht-europäische Völker gebracht haben, für die Diskussion der Krise der Vorsehungslehre gemeinhin keine große Rolle spielt. Er stellt weiter fest, dass die Vorsehungslehre in der Gewaltgeschichte des Kolonialismus eine zentrale Rolle gespielt habe, und fragt: »How could the Christian doctrine of providence have functioned so well as a theological category through which European Christians rendered intelligible and theologically justified the suffering and violence they inflicted upon non-European peoples for hundreds of years before the twentieth century?« (13) Dieser Frage will Jantzen in seiner Untersuchung nachgehen und gleichzeitig den kritisch-konstruktiven und befreienden Beitrag der Providenzlehre für eine Theologie des 21. Jh.s freilegen. Dazu analysiert Jantzen zunächst das Problem der Providenzlehre im gegenwärtigen theologischen Diskurs und kommt zu dem Schluss, dass dieses gerade nicht in dem allgemein so vorausgesetzten Kollaps der Vorsehungslehre angesichts europäischen Leidens bestehe, sondern stattdessen in dem, was er als ihre ideologische Gefangenschaft in einer »racialized vision of humanity« (25) bezeichnet. Die Theologie der Vorsehung Gottes muss nach Jantzen aus eben dieser Gefangenschaft befreit werden, soll sie ihren befreienden Charakter in Theologie und Praxis entwickeln können.

In den folgenden Kapiteln analysiert Jantzen daher drei für dieses Vorhaben paradigmatische Entwürfe unter der Fragestellung, wie diese das Verhältnis zwischen »providence, politics, and race in the modern world« (31) bestimmen, nämlich G. W. F. Hegel, Karl Barth und James H. Cone. In dieser Zusammenstellung fungiert Hegel (insbesondere untersucht anhand seiner Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte), zum Teil etwas holzschnittartig, als negativer Hintergrund für die kritisch-konstruktiven Ansätze, die Jantzen bei Barth und Cone findet. Hegels Transformation der Providenzlehre kritisiert Jantzen (mit Barth) als den Versuch, Jesus Christus als den letztgültigen Ort göttlicher Gegenwart durch den weißen, europäischen Mann zu ersetzen. Barths Providenzlehre (in KD III/3) liest Jantzen dagegen nicht nur als Gegenentwurf zu Hegels Subversion der Vorsehungslehre, sondern auch als Versuch »to foreclose on the possibility that the doctrine may be used by European humanity as a discursive technology of self-sacralization« (99). Stärker als in den beiden vorangegangen Kapiteln wird in Kapitel 4 der kritisch-konstruktive, nach Jantzen sogar befreiende Charakter der Vorsehungslehre deutlich, wenn er die Vorsehungslehre Cones anhand dreier seiner Hauptwerke (Black Theology and Black Power, A Black Theology of Liberation, God of the Oppressed) vorstellt und analysiert. Gemäß Jantzens Analyse ist der im Heiligen Geist gegenwärtige Christus für Cone Dreh- und Angelpunkt jeder Vorsehungslehre: Providenz sei für Cone die pneumatologische Gleichzeitigkeit Christi mit der Gegenwart und wird so zu einem Aspekt der Christologie. Christus ist im Heiligen Geist anwesend und gleichzeitig zentrales Kriterium dafür, wie und wo seine Anwesenheit gegenwärtig erkannt werden kann; der befreiende Christus, in dessen Inkarnation sich Gott mit den Unterdrückten und Versklavten identifiziert hat und der bei seiner Wiederkunft endgültige und vollständige Befreiung bringen wird, wird als der Schwarze Jesus erkannt, der in und mit den Schwarzen in ihrem Ringen um Befreiung gegenwärtig ist. Gottes Handeln in der Gegenwart wird damit für Cone (und Jantzen) durch eine christologische Linse erkennbar, die wiederum durch die Hermeneutik Schwarzer Befreiungstheologie bestimmt ist. Das vorletzte Kapitel von Jantzens Untersuchung, programmatisch mit Liberating Providence. The Spirit, Christ’s Presence and Creaturely Participation überschrieben, erarbeitet in der Zusammenschau der Argumentationslinien der vorangegangenen Abschnitte Jantzens Verständnis einer befreienden Vorsehungslehre in einer und für eine »racialized world«: Providenz bezeichnet nach ihm das zweifache Werk des Heiligen Geistes, der Christus der Schöpfung vergegenwärtigt und der die Menschen befähigt, durch »discernment, judgement, and action« (153) an Christi gegenwärtiger Präsenz zu partizipieren. Ein abschließendes Kapitel wendet dieses Verständnis der Vorsehungslehre als geistgewirkte Gegenwart Christi als Interpretationshilfe und »experimental reflections« (168) auf Initiativen in Durham, N.C., an, unter der konkreten Fragestellung »about how and where God is active in one particular time and place within the ongoing racial drama that is the modern world« (ebd.).

Die Stärke von Jantzens Ansatz liegt in seiner kompromisslosen Fokussierung auf die ideologische Gefangenschaft der Vorsehungslehre, insbesondere in ihrem Konnex mit einem »racialized worldview«, und dem auf diesem Hintergrund herausgearbeiteten befreienden Charakter in der christologischen und pneumatologischen Interpretation der Lehre. Man hätte sich gewünscht, dass Jantzen stärker noch den kritisch-konstruktiven Charakter seiner Vorsehungslehre entwickelt, über die von ihm angewandte Matrix einer »racialized world« hinaus etwa im Blick auf die Intersektionalität einer säkular-providenziellen Logik von Kapitalismus, Neokolonialismus und Nationalismus. Zudem wirkt die Darstellung von Hegels Providenzverständnis als Negativfolie, auf der Barth und Cone mit ihren Ansätzen als kritiklos positiv erscheinen, an Stellen eindimensional, und eine Blickweitung auf andere klassische Konzepte der Vorsehungslehre hätte der tatsächlichen Pluralität dieser Vorstellung zu allen Zeiten sicher besser entsprochen. Dennoch regt Jantzens Untersuchung unbestritten dazu an, das Verständnis vom Handeln Gottes in der Geschichte und seine theologische und kirchliche Interpretation im eigenen Kontext selbstkritisch zu hinterfragen und weiterzuentwickeln.

Wenn die Stärke von Jantzens Studie in seiner Fokussierung liegt, dann liegt die Stärke des Buches von David Fergusson in seiner Breite und Tiefe. In seinem 2018 erschienenen Buch The Providence of God nimmt der schottische Theologe Fergusson eine Anzahl bereits erschienener Artikel zum Thema der Vorsehungslehre auf und verarbeitet sie zu einem Werk, das nachgerade den Charakter eines Handbuches annimmt. Fergusson wählt dabei einen eher historischen Zugang zum Thema; in fünf ausführlichen Kapiteln untersucht er »the origins, problems and abuses of providentialism, particularly in the west, while also attempting reconstruction to rescue it from earlier distortions and wrong turnings« (11).

Fergussons Buch bietet einen weiten Bogen in seiner Behandlung der Providenzlehre; in kritischer Analyse stellt er zunächst im ersten Kapitel die »Sources of Providentialism« dar, beginnend mit einem Überblick über antike Philosophie, über biblische Grundlagen bis hin zum Verständnis der Providenzlehre in der Alten Kirche. Von besonderer Relevanz für Fergussons Ansatz ist in diesem ersten Kapitel der Abschnitt über die Heilige Schrift, in dem Fergusson in programmatischer Absicht aufweist, dass die Schrift nicht nur multiple Formen der Vorsehung kennt, sondern dass diese Vielfalt der biblischen Stimmen und Themen zusammen mit jüdischen Interpretationsmöglichkeiten nicht im Sinne eines einzigen philosophischen Metanarrativs übersystematisiert werden dürfe (40f). Das zweite Kapitel beschreibt, was Fergusson »The Latin Default Setting« nennt, die Providenzlehre in den Theologien des Mittelalters und der Reformationszeit. Im dritten Kapitel (»Dispersals of Providence in Modernity«) zeichnet Fergusson aufschlussreich nach, wie die Abkehr von biblischen und dogmatischen Themen in der Vorsehungslehre dazu führen konnte, dass diese durch säkulare Versionen und Interpretationen ersetzt wurde, indem er ausführlich und nuanciert auf die zum Teil ambivalente Rolle der Vorsehungslehre im Zusammenhang mit Imperialismus und Sklaverei, sowie der Theorie des Freihandels eingeht. Fergusson kommt zu einem ähnlichen Schluss wie Jantzen, wenn er festhält, dass »in terms of lending ideological support for imperialism and free market economic, the theology of providence was transposed to more secular contexts in problematic ways« (164). Kapitel 4 (»Providence in Nature«) und Kapitel 5 (»Twentieth-Century Reactions«) nehmen den eher historisch in-teressierten Faden wieder auf, geben jeweils aber auch Hinweise für eine konstruktive Formulierung der Vorsehungslehre. Eingedenk ethischer und seelsorglicher Konsequenzen einer gegenwärtigen Vorsehungslehre regt Fergusson an, dass die Vorsehungslehre im Blick auf die Theodizee-Frage nicht apologetisch und auf die Beantwortung dieser Frage begrenzt gestaltet werden sollte. Dieser Versuchung muss, laut Fergusson, widerstanden werden, ebenso wie einem ausschließlich anthropozentrischen Fokus der Vorsehungslehre. Neben der Diskussion der Neuansätze providenzieller Theologien in Prozesstheologie und Open Theism, legt das vorletzte Kapitel einen Schwerpunkt, wiederum ähnlich wie Jantzen, auf Karl Barths christologisch bestimmte Vorsehungslehre, bevor er in einem Abschnitt über »General Providence Only« auch auf James Cones Rekonstruktion der Providenz Gottes im Blick auf Schwarze Befreiungstheologie zu sprechen kommt.

Den spannendsten und ertragreichsten Beitrag für eine kritische und selbstkritische Rekonstruktion der Vorsehungslehre bietet das abschließende Kapitel »Providence Reconstructed«, in dem Fergusson Impulse aus den vorausgehenden Untersuchungen und Überlegungen aufnimmt und wiederkehrende Themen in zwölf Paragraphen zusammenfasst. Von herausgehobener Bedeutung ist hier Fergussons Forderung, die ähnlich auch in Jantzens Überlegungen gefunden werden kann, dass die Vorsehungslehre auf alle drei Glaubensartikel zu beziehen sei und nicht als ein abzugrenzender locus der Theologie verstanden werden kann. Die früher übliche Ansiedlung des Topos entweder in der Gottes- oder Schöpfungslehre verhindere laut Fergusson nicht nur eine schriftgemäße pneumatologische Interpretation des Handelns Gottes in der Welt, sondern ignoriere auch die christologische Dimension christlicher Vorsehungslehre. Er fordert zudem ein (und Jantzens Untersuchung könnte als eine Antwort auf diese Forderung gelesen werden), dass jede Form der Vorsehungslehre in ihrem Kontext verstanden, kritisiert und weiterentwickelt werden muss, in einer Form theologischer Mobilität, die sich am biblischen Zeugnis und am christlichen Leben in seiner ganzen Breite ausrichtet, auch wenn er damit den Verlust systematischer Kohärenz in Kauf nimmt: »In the case of characterising the works of God in crea- tion, redemption, dynamic presence and eschatological resolution, the theology of providence provides an example par excellence of a ›systematic unsystematic‹ theology.« (302) An drei Beispielen wendet Fergusson diese Grundlagen trinitarischer »Dogmatics of Providence« an: der creatio continua (Schöpfer und Schöpfung), der theologia crucis (mit starkem Bezug auf Luther) und dem Wirken des Heiligen Geistes in seiner providenziellen Dimension. Fergussons Interesse an pastoraler Theologie wird in den abschließenden Überlegungen seines Buches zum Ziel geführt, in denen er in einer »Practical Theology of Providence« das »crossover between systematic and pastoral theology« (322) vornimmt und die vorher entwickelten Aspekte seiner Vorsehungslehre auf das Gebet (insbesondere der Fürbitte), die Politik (in einer Dialektik von kritischer Dekonstruktion und positivem Potenzial der Vorsehungslehre) und das Leiden bezieht.

Insbesondere diese letzten drei Abschnitte belegen die Relevanz der Vorsehungslehre für das Glaubensleben des Einzelnen wie der Kirche und laden zur Weiterarbeit an einer Rekonstruktion der Vorsehungslehre ein. Sie vermitteln Kriterien, anhand derer die Krisen, in denen die Vorsehungslehre sich befindet, wahr- und ernstgenommen werden können, und gleichzeitig das Potenzial, das eine konstruktive, polyphone Vorsehungslehre in ihrer trinitarischen Interpretation auch für die Krisen der Gegenwart bietet – und in diesem doppelten Auftrag stimmen Fergusson und Jantzen in ihren so unterschiedlichen Werken letztendlich völlig überein.