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Ausgabe:

Juni/2023

Spalte:

594-596

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Graf, Friedrich Wilhelm

Titel/Untertitel:

Ernst Troeltsch. Theologie im Welthorizont. Eine Biographie.

Verlag:

München: C. H. Beck 2022. 638 S. m. 37 Abb. Geb. EUR 38,00. ISBN 9783406790140.

Rezensent:

Arnulf von Scheliha

Friedrich Wilhelm Grafs Biographie des Theologen und Philosophen Ernst Troeltsch (1865–1923) ist, um es vorweg zu sagen, eine Meisterleistung. Sie schließt eine empfindliche Lücke und ist zugleich das Ergebnis von G.s jahrzehntelanger Beschäftigung mit dem Werk und dem Leben dieses großen Mannes, dessen bis in die Gegenwart reichende Bedeutung nicht zuletzt deswegen spürbar ist, weil er sich nach der Revolution 1919 in den Dienst der Weimarer Republik und des Freistaates Preußen gestellt und in seinen politischen Ämtern maßgeblich zur behutsamen Trennung von Staat und Kirche beigetragen hat, die bis zur Gegenwart gilt.

G. beschreibt mit großer Sympathie alle Facetten dieses rastlosen Gelehrtenlebens, hält aber zugleich stets Distanz. Das gelingt ihm deshalb so vorzüglich, weil er Troeltsch in die sozial-, kirchen-, theologie- und philosophiegeschichtlichen Kontexte einordnet und deutlich macht, wie vieldimensional die Anregungen waren, die Troeltsch aufgegriffen und in nie erlahmender Produktivität selbstständig verarbeitet hat. G. bringt sein immenses Wissen ein, wenn er die bildungsbiographisch und werkgeschichtlich vorgetragenen Gedanken Troeltschs ein- und zuordnet, in knappen Strichen erläutert, resümiert und bisweilen kritisch wertet. Diese Biographie ist keine Hagiographie.

G. erzählt fesselnd. Schon der eindrucksvolle Einstieg mit der Schilderung der Trauerfeier für den plötzlich Verstorbenen ist ein literarischer Coup und zieht einen sofort in den Bann. G. zeichnet in diesem Buch die protestantischen Milieus der Kaiserzeit und der Weimarer Republik. Dazu gehören Troeltschs Kindheit in Augsburg in einer protestantischen Arztfamilie, die neuhumanistische Gymnasialbildung, die Vorlesungen bei den Benediktinern, bei denen der Abiturient die Katholische Philosophie und Theologie kennenlernte, und die kostspielige, aber öde Zeit des einjährigen Wehrdienstes. Gut bekannt waren schon die prägenden Erfahrungen während des Studiums in Erlangen, Berlin und Göttingen, die akademischen Qualifikationsschritte und die ambitionierte Gruppe der religionsgeschichtlich orientierten Privatdozenten in der »Kleinen Göttinger Fakultät«. Die Erzählungen werden durch die klug ausgewählten Bildtafeln hilfreich unterstützt.

Mit den Berufungen des 27-jährigen Privatdozenten als Extraordinarius nach Bonn, als Jungordinarius nach Heidelberg und auf dem Höhepunkt seines Ruhmes in die Reichshauptstadt beginnt die spannende Schilderung der damals hochschwierigen Gemengelage zwischen den berufenden Fakultäten, der Stellung nehmenden kirchlichen Behörden und den Ministerien, die die Entscheidungen zu treffen hatten. Es spricht für das kantige intellektuelle Profil Troeltschs, dass die Berufungen nach Bonn und Berlin sehr umstritten waren und gegen erhebliche Widerstände durchgesetzt werden mussten. Auch die Beschreibungen der Arbeitsweisen der Fakultäten und der Universitäten im monarchischen Deutschland sind spannend zu lesen. Das statistische Material belegt die für heutige Begriffe idyllischen Studienbedingungen. Als Prorektor der Heidelberger Universität begegnete Troeltsch mehrfach den Badischen Großherzögen und anderen Monarchen. Seine lang erwartete Berufung nach Berlin fiel in das erste Weltkriegsjahr. Der von ihm begrüßte »Burgfriede« schränkte die politische Meinungsfreiheit ein. In seiner Rede zum Geburtstag des Königs von Preußen und Deutschen Kaisers am 27. Januar 1915 »klagt« Troeltsch, wie Graf zeigt, zwischen den anlassbezogenen Pathosformeln »Verantwortung für die Gestaltung einer Nachkriegsordnung ein« (409).

Diese Verantwortung übernimmt Troeltsch unmittelbar nach der Revolution. Genauestens rekonstruiert G. die verdienstvollen Aktivitäten für die linksliberale Deutsche Demokratische Partei (DDP), in der verfassunggebenden Preußischen Landesversammlung und im Preußischen Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung. Dazu treten die zeitdiagnostischen Analysen der politischen Zeitläufte in den Spectator-Briefen. Auch die materiellen Grundlagen des bürgerlichen Lebens des Gelehrtenpolitikers bezieht G. ein und belegt sie mit Zahlen. Troeltschs reiche Vortrags- und Publikationstätigkeit hat eine ökonomische Seite und half das bis zur Berliner Zeit nicht üppige Salär aufzubessern und den großbürgerlichen Lebensstil zu finanzieren. Dem gab die Familie Troeltsch in Berlin in ihrer großzügigen Wohnung am Reichskanzlerplatz in Charlottenburg Ausdruck. Aber mit der Revolution gerät ebendies in Gefahr. Straßenkämpfe und Schusswechsel vor der Haustür, die Dienstboten werden aufmüpfig und wechseln häufig, die Versorgungslage ist prekär, Streiks bei den öffentlichen Verkehrsmitteln machen lange, kraftraubende und mitunter gefährliche Fußmärsche in die Mitte Berlins erforderlich. Troeltsch besorgt sich eine Pistole. Mit dem Attentat auf Reichsaußenminister Walter Rathenau verliert er einen wichtigen Gesprächspartner und politischen Parteigänger. Seine rastlose Tätigkeit ist Raubbau an der (psychischen) Gesundheit.

Troeltsch stirbt nach kurzer schwerer Krankheit am 1. Februar 1923, dem Schicksalsjahr der Weimarer Republik, deren Konsolidierung, Krise und Ende er nicht erlebt hat. Die enge Verknüpfung von Troeltsch mit der politischen Geschichte Deutschlands macht G. nochmals deutlich in der Beschreibung des Schicksals von Troeltschs Grab auf dem Invalidenfriedhof, das die Ost-Berliner Behörden zugunsten der Grenzsicherung und zur Weiterverwendung des monumentalen Grabsteines einebneten. G. zitiert ein amtliches Schreiben: »Wegen einer permanenten Knappheit an Grabsteinen in der DDR sei dieser Stein, wie in solchen Fällen üblich, zersägt und verschiedenen Interessenten an Grabsteinen überlassen worden« (540). Er kommentiert ironisch: »Selbst ganz große Steinblöcke, Inbegriff von harter Materialität, sind offenkundig nicht so substanzstark, dass Dialektische Materialisten sie nicht in viele kleinere Teile partikularisieren können.« (ebd.) Der am Ende doch erfolgreiche Versuch, nach der Wiedervereinigung die Grabstelle zu restituieren, offenbarte die bis heute sprichwörtliche Ineffizienz der Berliner Bürokratie.

Zu den großen Vorzügen dieses opus magnum gehört, dass G. auch prekäre Themen aufgreift. Die Schwierigkeiten, eine passende Ehefrau zu finden, eine gelöste Verlobung, Krisen in der Ehe mit Marta, das Zerwürfnis mit Max Weber, akademische und politische Niederlagen. Wichtiger als diese Details, die so oder anders Teil jedes bürgerlichen Lebens gewesen sein dürften, ist das sehr differenzierte Kapitel über »Troeltschs Juden«. Hier zeigt G., dass Troeltsch einerseits keine Berührungsängste im Umgang mit jüdischen Menschen hatte, vielmehr mit ihnen Freundschaften, Geselligkeit und Schülerverhältnisse intensiv pflegte. Aber mit Hermann Cohen, dem Führer des intellektuellen Judentums der damaligen Zeit, konnte er gar nichts anfangen. Überdies finden sich, wie G. herausarbeitet, auch irritierende Denkfiguren und Äußerungen, die zeigen, dass Troeltsch trotz reichen Beifalls, den er auch von jüdischen Autoren erhalten hat, an den tief verankerten Ressentiments gegen jüdische Menschen der damaligen Zeit Anteil hatte.

Von größter Souveränität und bis ins Detail gelungen sind die vielen prägnanten Ausflüge in das theologische und philosophische Schaffen Troeltschs. G. rekonstruiert Troeltsch als einen Denker, der in immer wieder neuen Anläufen in veränderten Kontexten die tiefe Individualität alles geistigen Lebens und die Irrationalität der letzten Lebenstiefen herausarbeitet. »Troeltsch betonte den elementaren Unterschied von Religion und Kultur […]. Religion ist radikales Differenzbewusstsein. Sie ist jene Kulturpotenz, die die Immanenz einer jeden Kultur aufsprengt – indem sie durch Transzendenzbezug auf unabgegoltene Sollensgehalte und […] das ›Ideal‹ verweist. Religion stärkt die Sensibilität dafür, dass hier und jetzt niemand wissen kann, was dermaleinst sein wird.« (546) Zu Recht verweist G. darauf, dass Troeltschs philosophisches Denken starken Schwankungen unterliegt. Grund dafür ist, dass er sich aus der neuen Philosophie jene Gedanken »freibeuterisch« aneignet, die ihm halfen, seine Erkenntnisziele zu erreichen und das moderne Leben in seiner ganzen Komplexität zu deuten. Aber G. verweist auch auf die Kontinuitäten in Troeltschs Denken, ohne die dessen immense Adaptivität nicht zu leisten gewesen wäre. So entsteht das Bild eines originellen Denkers mit seinem bis heute uneingelösten Vermächtnis, Pluralität zu denken, in all ihren Widersprüchen, Spannungen und Konflikten, aber dies zugleich unter der Bedingung von – wie es Troeltsch einmal selbst formuliert hat – »Zusammenbestehbarkeit« (150). Darin lag die große intellektuelle und praktische Herausforderung, der sich die Theologie bis heute zu stellen hat.

Das Buch ist eine Fundgrube, und man braucht kein Prophet zu sein, um zu sagen: Es wird ein Standardwerk. Man wünscht ihm viele Leserinnen und Leser in Theologie, Philosophie und – ganz im Sinne Troeltschs – im gebildeten Bürgertum!