Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juni/2023

Spalte:

591-593

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Basse, Michael, und Christian Neddens [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Anstoß des Kreuzes. Kreuzestheologische Aufbrüche im 20. und 21. Jahrhundert.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2021. 316 S. = Lutherische Theologie im Gespräch, 3, Kart. EUR 44,00. ISBN 9783374068937.

Rezensent:

Volker Stümke

Der Untertitel gibt eine klare Richtungsanzeige dieses Bandes: Es geht um die Kreuzestheologie im 20. und 21. Jh. Dahinter verbergen sich näherhin drei Schwerpunkte, nämlich erstens eine Rekonstruktion der Aufbruchsbewegungen des 20. Jahrhunderts, namentlich der deutschen und der schwedischen Lutherrenaissance sowie der Dialektischen Theologie als einer Neuprofilierung von Kreuzestheologie, zweitens eine intensive Analyse der Theologie von Hans-Joachim Iwand, der von diesen drei Bewegungen beeinflusst worden ist und folglich als Kreuzestheologe gelten kann, sowie drittens eine inhaltliche Profilierung dessen, was man im Anschluss an Martin Luthers Heidelberger Disputation von 1518 als theologia crucis bezeichnet. Dementsprechend enthält dieser Band eine Fülle an Aufsätzen, unter denen sich einige »Perlen« befinden.

Im ersten Teil des Buches werden die Aufbrüche des 20. Jh.s als Wiederentdeckung der lutherischen Kreuzestheologie interpretiert. Michael Basse analysiert die deutsche Lutherrenaissance, indem er Paul Althaus, Walther von Loewenich und Erich Seeberg vorstellt. Kai-Ole Eberhardt zeigt die Nähe des frühen Karl Barth zu Luther als Rückgriff auf die Kritik am liberalen Christentum von Franz Overbeck und als daraus resultierende Abwendung von einer theologia gloriae auf, und schließlich referiert Christian Neddens die schwedischen Lutherforscher Anders Nygren und Gustav Aulén. Es folgen zwei Aufsätze zur Theologie Dietrich Bonhoeffers als eines Schülers der Lutherrenaissance. Josh de Keijzer analysiert Bonhoeffers offenbarungstheologischen Ansatz als Umsetzung der kreuzestheologischen Einsicht, dass man nur vom Kreuz her Gott erkennen könne, und er behauptet, dass die Tendenz hin zu einer Gott-ist-tot-Theologie, die sich beim späten Bonhoeffer finden lasse, eine konsequente Weiterentwicklung dieser Einsicht sei. Gerard den Hertog schließlich vergleicht in einem pointierten Aufsatz die Ethik Bonhoeffers mit der Schöpfungsethik von Emanuel Hirsch; beiden gemeinsam sei die Rede vom konkreten Gehorsam als ethischer Grundhaltung, jedoch werde dieser Gehorsam bei Hirsch auf die jeweilige völkische Bindung und hernach vor allem auf die Führung des Volkes als konkrete Richtungsangabe bezogen, während Bonhoeffer ihn kreuzestheologisch als situativ (und insofern konkret) zu verantwortende Nachfolge Christi profiliert habe.

Der Mittelteil ist dem Theologen Hans-Joachim Iwand gewidmet und bietet eine Fülle exegetischer Beobachtungen zu dessen Werk. Besonders instruktiv ist – vor allem für Nichtkenner Iwands– der einführende Beitrag von Neddens, der die grundlegende Bedeutung der Heidelberger Disputation für Iwands Denken, aber wohl auch für die Kreuzestheologie insgesamt herausstreicht. Edgar Thaidigsmann rekonstruiert Iwands Ansatz, indem er ihn unter das Zitat »Gott recht geben« stellt. Mit dieser Redewendung beschreibe Iwand die Wendung des Glaubens weg vom glaubenden Subjekt hin zur Offenbarung Gottes und darin enthalten seine Kritik am Neuprotestantismus. Anna Vind analysiert den nicht vorhandenen Rekurs Iwands auf Luthers Schrift gegen Latomus, die für Iwands Lehrer Rudolf Hermann weitaus relevanter gewesen sei. Christine Svind-Værge Pöder profiliert Iwand, indem sie ihn mit seinen Lehrern R. Hermann und Karl Holl vergleicht und festhält, dass Iwand keine Gebetstheologie (wie Hermann) vertreten habe, weil ihm das Selbst zu ungebrochen wäre, und dass er auch die Verankerung der Rechtfertigung nicht primär im Gewissen (wie Holl), sondern in Christus loziert habe.

Die drei folgenden Aufsätze schlagen die Brücke von einer Rekonstruktion Iwands hin zur inhaltlichen Ausgestaltung einer gegenwärtigen Kreuzestheologie. Frank Pritzke plädiert für eine dezidiert christologische Lesart des »simul iustus et peccator«, das erst von Holl, Hermann und Iwand als Bestandteil lutherischer Kreuzestheologie entfaltet worden sei. Dieses Zugleich könne also nur an Christus, aber nicht am (neuen) Menschen aufgewiesen werden, denn im neuen Menschen lebe eben nicht mehr das Ich, sondern (Gal 2,20 f.) Christus. Aber wird damit die ethische Pointe des »simul«, also der Realitätscheck, dass auch Christen nicht sündenfrei agieren, nicht geopfert? Martin Bauspieß hält fest, dass der kreuzestheologische Ansatz eine Kritik am Theismus enthalte, was sowohl Iwand wie Hans-Georg Geyer klar artikuliert hätten. Und Cees-Jan Smits interpretiert den Rekurs auf die augustinische Rede vom »interior intimo meo« bei sowohl Iwand wie Eberhard Jüngel als kreuzestheologische Betonung der Nähe und Erfahrbarkeit Gottes in seinem Sohn und in seinem Wort. Bei der weiteren Entfaltung gebe es allerdings Abweichungen; Iwand wende sich zur Hamartiologie und betone, dass im Kreuz der wirkliche, die eigene Sünde verdrängende Mensch, sichtbar werde, während Jüngel trinitätstheologisch argumentiert und auf den menschlichen Menschen, der in Christus ansichtig werde, hingewiesen habe.

Den Abschluss bilden sechs Aufsätze, die inhaltlich präzisieren, was einen Kreuzestheologen auszeichne. Dabei fokussieren drei Autoren auf die aktuelle Wirkungsgeschichte: Robert Kolb referiert die Kreuzestheologie des US-amerikanischen Lutheraners Gerhard Forde, Martin Hoffmann zeigt, wie sich das Kreuz in Lateinamerika von einem Symbol der Unterdrückung (als Siegeszeichen der Er-oberer) zum Zeichen der Befreiung gewandelt habe, und Leopoldo A. Sánchez gibt Auskunft über gegenwärtige Versuche einer Pneumatologie des Kreuzes. Einen weiterführenden Impuls setzt Heinrich Assel, der im Anschluss an Geyer den Kreuzestod als Wandlung Gottes versteht: Gott habe sich (Ostern) dazu entschieden, nicht aus der Welt zu verschwinden, wie es die politischen und religiösen Herrscher wollten, sondern zu seinem Sohn zu halten. Marco Hofheinz greift die im Kreuz als Torheit (1Kor 1,18 ff.) angelegte Religionskritik auf und zeigt anhand eines Cartoons, dass christlicher Glaube mit der Kritik am Theismus und an kirchlichen Traditionen durchaus konstruktiv verfahren könne und solle. Auch Johannes Michael Modeß entfaltet die im Kreuz angelegte Kritik am Theismus, indem er den theistischen Gottesbegriff als Letztbegründungsfigur skizziert und kritisiert: Das Skandalon des Kreuzes liege darin, dass es den »normalen« Gottesbegriff hinterfrage.