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Ausgabe:

Juni/2023

Spalte:

589-591

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Rusam, Dietrich

Titel/Untertitel:

Der Evangelist. Die Autobiografie des Lukas.

Verlag:

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus (Penguin Randomhouse) 2022. 352 S. Geb. EUR 24,00. ISBN 9783579062174.

Rezensent:

Martin Bauspieß

In seinem Buch konstruiert Dietrich Rusam eine fiktive Autobiographie des Evangelisten Lukas. R. schreibt einerseits eine erfundene Geschichte, bezieht sich dabei aber andererseits auf bestimmte exegetische und historische Entscheidungen, die er in seinem Werk entfaltet. Als Anliegen formuliert er, »dass die Briefe des Paulus und das Doppelwerk des Mannes, den wir Lukas nennen, wieder öfter gelesen werden« (11). Eine erste Grundentscheidung wird ganz zu Beginn getroffen: R. geht davon aus, dass es sich bei dem Verfasser des lukanischen Doppelwerkes um den Paulus-Begleiter Lukas handelt, der in den »Wir-Stücken« der Apostelgeschichte (Apg 16,10–17; 20,5–15; 21,1–18; 27,1–28,16) selbst zu Wort komme (7). R. beruft sich dafür vor allem auf den 2008 erschienenen Kommentar zum Lukasevangelium von Michael Wolter. Natürlich ist dieser Lukas– nach der Tradition von Kol 4,14 – ein Arzt. Die zweite Grundentscheidung besteht darin, dass R. in »Lukas« einen Diaspora-Juden erblickt, der als Sohn eines Tora-Lehrers aufwächst und so in der Heiligen Schrift Israels unterrichtet wird (29). Von Anfang an beschäftigt den Protagonisten das Problem der »Gottesfürchtigen« und ihrer Zugehörigkeit zum Gottesvolk (49). Lukas lernt Philo von Alexandrien kennen (66) und erfährt von der Septuaginta, die er gründlich studiert (67–69). So lässt R. in seine Erzählung immer wieder Hinweise darauf einfließen, worauf sich »der Evangelist« in seinem Werk beziehen kann. Es gelingt R., die Situation des hellenistischen Judentums in der Diaspora anschaulich zu machen und so die Motivation des Lukas für sein Werk zu entwerfen. Die Frage: »Was ist mit den Heiden?« wird zur Ausgangsfrage erklärt (97 u. ö.).

Die entscheidende Prägung findet nach R. für den Evangelisten Lukas in der Begegnung mit Paulus statt (122), der ihm davon erzählt, wie er selbst auf dem Weg nach Damaskus »ins Grübeln gekommen« sei, »ob man wirklich durch Zwang Menschen zum Einhalten der Tora bringen könne, oder bringen dürfe« (124). Hier zeigt sich, wie R. die Ausgangsthese der »New Perspective on Paul« auf den Verfasser des lukanischen Doppelwerkes projiziert. Die bei Lukas erzählte Frage des Auferstandenen: »Was verfolgst du mich?« (Apg 9,4) legt allerdings nahe, genau wie die Angaben des Paulus selbst zur Sache, dass es in erster Linie eine christologisch-theologische Streitfrage war, die Paulus zum Christenverfolger machte und in deren Konsequenz sich dann erst die Frage nach der soteriologischen Bedeutung der Tora ergibt. Überhaupt schleift R. die Kanten sowohl der lukanischen als auch der paulinischen Theologie ab, indem er beide übereinanderblendet. Der Hauptteil des Buches besteht in einer Nacherzählung von Passagen aus der Apostelgeschichte, die mit Informationen aus den Paulus-Briefen kombiniert werden. R. lässt Paulus vom Konflikt zwischen Petrus und Paulus in Antiochia erzählen (135–138). Hier ist es der Apostel Johannes, der die »Minimalforderungen« für die Heiden vorschlägt, wie sie im »Aposteldekret« beschrieben werden (Apg 15,19 f.28 f., vgl. 21,25). R. versucht an dieser Stelle nicht, die Darstellungen von Gal 2 und Apg 15 miteinander zu harmonisieren. Er lässt Paulus im Gegenteil vehement widersprechen (137), interpretiert die nach Gal 2,9 geschlossene Einigung aber dahingehend, dass man sich nur über die Uneinigkeit einig geworden und sich die unterschiedlichen Missionsgebiete (Juden/Heiden) aufgeteilt habe (ebd.). Auch im letzten Kapitel des Buches weist der Ich-Erzähler darauf hin, dass Lukas in seiner Darstellung des »Apostelkonzils« in einer überwiegend heidenchristlich geprägten Kirche eine harmonisierende Darstellung vorgenommen habe, die nicht die Auffassung des Paulus selbst widerspiegele (346). An dieser Stelle werden also auch Unterschiede zwischen Lukas und Paulus erkennbar, die Tiefe der Auseinandersetzung des Paulus mit dem Problem der Tora wird aber kaum erkennbar – hier liest R. Paulus eindeutig durch die »lukanische Brille«.

Erwähnung verdient auch, wie R. die Paulus-Briefe behandelt. Da er Lukas als Paulus-Begleiter ansieht und in die Darstellung der theologischen Ausführungen des Paulus immer wieder Zitate aus den Paulus-Briefen einfließen lässt, muss er ihm natürlich auch die Kenntnis dieser Briefe zuschreiben. Elegant lässt R. durchblicken, dass er den Philipperbrief nicht in der Gefangenschaft in Rom, sondern bereits in Ephesus geschrieben sieht (203), während er Lukas, der die Purpurhändlerin Lydia heiratet, mit der er einen Sohn namens »Theophilus« hat, zu der Zeit in Philippi verortet (194). Auch lässt er Lukas in Korinth bereits die literarkritische Scheidung des Zweiten Korintherbriefs erkennen und erklärt diesen zu einer bereits in Korinth selbst zusammengestellten Briefsammlung (316–318). Am Ende lässt er Lukas »eine beachtliche Sammlung von Schriften über den Gottessohn Jesus Christus« besitzen: neben dem Philipper- auch den Römerbrief und die beiden Korintherbriefe (333). Dazu kommt eine »Sammlung von Jesusworten«, die er von Silas erhält (332) – die Logienquelle. Und schließlich erhält Lukas eine Abschrift des Markus-Evangeliums, die ihm den Rahmen für seine eigene Jesus-Erzählung gibt (336 f). In einem letzten kurzen Kapitel (340–348) konstruiert R., wie »der Evangelist« sein Werk schreibt: Er widmet es seinem Sohn Theophilus und versucht die Jesus-Geschichte so zu erzählen, dass die Verbindung zwischen seiner Person und dem Reich Gottes deutlich wird (341). Erst auf die Intervention seines Sohnes hin schreibt Lukas dann auch die Apostelgeschichte, in der es ihm um die »gesetzesfreie Heidenmission« gehen und auch »die Theologie des Paulus zur Sprache kommen« solle (344). Gegenüber Paulus ist Lukas der Meinung, dass die irdische Geschichte Jesu eine größere Rolle spielen solle (340). Paulus hingegen schreibt er die Auffassung zu, dass es »im Grunde egal« sei, »was Jesus gesagt und getan hat« (131). Deshalb schreibt der Paulus-Begleiter Lukas sein Evangelium.

R. versucht in seinem Buch etwas, das die Evangelisten in ihren Werken auch tun: Er entwickelt Theologie narrativ. Das ist ein großartiger Versuch. Sein Buch zeigt dann auch, welchen Gewinn eine solche erzählerische Entfaltung hat: Ihr gelingt es, die später als heilig angesehenen Texte aus ihren konkreten Entstehungszusammenhängen heraus begreifbar zu machen, als Schreiben von Menschen mit bestimmten Anliegen in bestimmten Situationen. Auch Konfliktlinien und Positionen werden so erkennbar, die man freilich unterschiedlich bestimmen kann. So versucht R. Licht zu bringen in die Geschichte des bewusst im Dunkel bleibenden Verfassers des lukanischen Doppelwerkes. Da er sich dabei aber bewusst auf die biblischen Texte selbst bezieht, dürfen kritische Anfragen gestellt werden: Lassen sich die Unterschiede zwischen der Gesetzeskritik des Paulus und der Darstellung des Lukas wirklich als marginal abtun? Eine zu einfache Erklärung findet R. auch für die Tatsache, dass Lukas den Paulus nicht »Apostel« nennt. So erklärt er die beiden Stellen, an denen das Wort vorkommt (Apg 14,4.14) – dort allerdings die allgemeine Bedeutung »Abgesandter« hat – für eine Andeutung, dass Lukas um die Bedeutung, die der Aposteltitel für Paulus selbst hat, gewusst habe (346). Tatsächlich weiß »Lukas« davon offensichtlich nichts. Er entwickelt vielmehr ein eigenes Apostelverständnis, das seiner eigenen Konzeption folgt, und verarbeitet auch in seinem zweiten Werk Quellen, die er gesammelt hat. Auch die Briefe finden bei ihm keine Erwähnung. Es gibt deshalb gute Gründe, bis heute die im Anschluss an Phm 24, Kol 4,14 und 2Tim 4,11 konstruierte These des Evangelisten Lukas als Paulusbegleiter und Arzt in Frage zu stellen. Da R. alles auf diese These setzt, erfährt man aus dem Buch dann doch wenig über »den Evangelisten« selbst. R.s fiktive Autobiographie des Evangelisten Lukas provoziert deshalb dazu, die Texte des Paulus und des Lukas erneut kritisch zu lesen und zueinander ins Verhältnis zu setzen. Sie erreicht damit also genau das, was der Verfasser mit seinem Buch erreichen will (11, s. o.).