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Ausgabe:

Juni/2023

Spalte:

583-585

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Niebuhr, Karl-Wilhelm

Titel/Untertitel:

Paulus im Judentum seiner Zeit. Gesammelte Studien.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2022. X, 493 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 489. Lw. EUR 169,00. ISBN 9783161610998.

Rezensent:

Christfried Böttrich

Mit diesem Band gesammelter Studien schließt Karl-Wilhelm Niebuhr an den Vorgänger »Tora und Weisheit. Studien zur frühjüdischen Literatur, Tübingen 2021« (Rez. ThLZ 148/1–2, 2023, 23–26) an und nimmt darin die wechselseitige Wahrnehmung zwischen Neuem Testament und frühjüdischer Literatur aus der Perspektive der Paulusbriefe in den Blick.

Der Band enthält 17 Studien, von denen drei hier zum ersten Mal erscheinen; sie sind wie ein Rahmen um die anderen Beiträge gelegt und ordnen sie auf diese Weise in die Entwicklung der jüngeren Paulusforschung ein. Gegliedert ist der Band in drei Sektionen: I Tora, II Christologie und Rechtfertigung, III Studien zum Römerbrief; unter IV Ausblick erfolgt eine Bündelung des vorgelegten Programms in Gestalt von N.s Jenaer Abschiedsvorlesung.

Der erste, titelgebende Aufsatz »Einführung: Paulus im Judentum seiner Zeit. Der Heidenapostel aus Israel in neuer Sicht« führt in die Thematik ein; sein Untertitel signalisiert bereits den Anschluss an N.s Habilitationsschrift von 1992. Ausgangspunkt ist ein Aufsatz von 2009, der Paulus nicht aus dem Gegensatz, sondern aus der Einbettung in das vielgestaltige Judentum des 1. Jh.s zu begreifen versucht; nicht ob, »sondern was für ein Israelit das war, der da im Wirken, Weg und Geschick des Menschen Jesus aus Nazaret seinen Gott, den Gott Israels, am Werk sah« (6), ist die Frage. Diese klar konturierte Darstellung wird nun um einen »Nachtrag zur ›New Perspective on Paul‹ seit 2010« ergänzt, einschließlich ihrer Zuspitzung in der »Paul within Judaism«-Perspektive. Im Zentrum stehen dabei zunächst N. T. Wright und Daniel Boyarin. Wright schließt mit seiner These einer sinnstiftenden »Narration«, die der pln. Theologie zugrunde liege, an die »New Perspective« an; mit ihr vermag er zu würdigen, dass Paulus innovativ denkt, ohne den Rahmen seiner jüdischen Sozialisation zu verlassen. Noch konsequenter verfährt Boyarin, der Paulus vor allem als einen radikalen Reformer jüdischer Kultur versteht. Von den Vertretern der »Paul within Judaism«-Perspektive kommen Paula Fredriksen und Mark Nanos zu Wort. Fredriksen geht es darum, die Haltung des Paulus zur Völkerwelt im Lichte biblischer Traditionen zu beschreiben. Nanos favorisiert und entwickelt die These, dass sich die paulinische Argumentation vor allem an Nichtjuden richte und für Juden deshalb irrelevant sei. Mit diesen neuen Akzenten verschiebt sich das Interesse von Themen wie Gerechtigkeit Gottes, Sünde, Gnade, Rechtfertigung, Geist oder Ethik hin zu der Frage nach Israels Rolle und der biblisch-jüdischen Tradition vom endzeitlichen Handeln Gottes. Eine solche Kontextualisierung hat auch Raum für die spezifisch innovativen bzw. »reformerischen« Ansätze des Paulus gegenüber anderen jüdischen Positionen, deren »Neuheit« indessen nicht mit einer »Beurteilung als ›nicht mehr jüdisch‹ oder gar ›unjüdisch‹ « (38) verwechselt werden darf.

I Tora. Am Anfang dieser ersten Sektion steht der Beitrag »Das jüdische Gesetz bei Paulus im Kontext des Neuen Testaments«; er basiert auf Material und Ergebnissen von N.s Artikel »Nomos C« in RAC 25, 2013, 1039–1061. Für den Kontext des Neuen Testaments stehen Jesus und die Evangelien, Jak und Hebr; allein der letztere lässt eine im Neuen Testament singuläre und isolierte »Abwertung und Ablehnung des jüdischen Gesetzes« (61) erkennen. Den breitesten Raum nimmt Paulus ein. Die Haltung des Apostels zu Funktion und Reichweite der Tora wird aus seiner Biographie geschlossen, an den Problemen der Gemeindepraxis aufgespürt, in den thematischen Ausführungen des Gal und Röm überprüft und abschließend einer Beurteilung in pragmatischer Hinsicht unterzogen. »Für den Paulus, den wir aus seinen Briefen kennen, gehören das Heilshandeln Gottes und die Tora ebenso grundsätzlich zusammen wie das Christusgeschehen und die Offenbarung der endzeitlichen Gottesgemeinschaft für Juden und Heiden.« (79)

Ferner stehen hier: »Offene Fragen zur Gesetzespraxis bei Paulus und seinen Gemeinden. Sabbat, Speisegebote, Beschneidung«; »The Pre-Christian Paul and God’s Righteousness. Paul’s Jewish Identity and the Roots of His Doctrine of Justification»; »›Judentum‹ und ›Christentum‹ bei Paulus und Ignatius von Antiochien; Identität und Interaktion. Zur Situation paulinischer Gemeinden im Ausstrahlungsfeld des Diasporajudentums«; »Jesus, Paul and the Pharisees. Observations on their Commonalities and their Understanding of Torah«.

II Christologie und Rechtfertigung. In dieser zweiten Sektion finden sich die folgenden Aufsätze: »Jesus Christus und der eine Gott Israels. Zum christologischen Gottesglauben in den Paulusbriefen«; »Christ of Paul’s Story. Jesus Christ - Son of David and Son of God«; »Die paulinische Rechtfertigungslehre in der gegenwärtigen exegetischen Diskussion«.

III Studien zum Römerbrief. Die dritte Sektion versammelt Beiträge, die der jüdischen Identität des Paulus in seiner Argumentation gegenüber der Gemeinde in Rom nachgehen: »Das Neue Testament im Kontext jüdisch-hellenistischer Literatur. Röm 1,19–23 als Testfall«; »Menschenbild, Gottesverständnis, Ethik. Zwei paulinische Argumentationen (Röm 1,18–2,29; 8,1–30)«; »Adam’s Sin and the Origin of Death. Paul’s Argument in Rom 5:12–14 in the Light of Jewish Texts from the Second Temple Period«; »›Nicht alle aus Israel sind Israel‹ (Röm 9,6b). Röm 9–11 als Zeugnis paulinischer Anthropologie«; »Paul, the Israelite, on Israel and the Gentiles at the End of Time. Reflections on Romans 9–11«; »Der Römerbrief in ökumenischer Perspektive. Zum theologischen Werk von Eduard Lohse«.

IV Ausblick. Mit »Paulus im Judentum seiner Zeit – und heute« stellt Niebuhr seine noch ungedruckte Jenaer Abschiedsvorlesung (Februar 2022) an den Schluss, mit der er zugleich die reguläre Vorlesung zum Römerbrief im Wintersemester beendet hatte: »Am Römerbrief kommt keiner vorbei, und damit auch nicht an Paulus.« (401) So wird die unverkennbar persönliche Tonlage des Briefes zum Ansatz eines Fazits: Paulus kommt noch einmal pointiert als »Israelit«, als »Sklave Jesu« und als »Verkündiger des Evangeliums« zur Sprache, in dem Dreischritt von »im Römerbrief«, »im Judentum seiner Zeit« und »heute?«, wobei letzteres stets mit einem Fragezeichen versehen ist. Auf einfühlsame Weise gelingt es Niebuhr, den Kontext frühjüdischer Theologie wie auch die eigenständigen Aufbrüche des Apostels zueinander in Beziehung zu setzen und damit eine Perspektive zu eröffnen, in der auch die neuen Fragen unserer Zeit zu ihrem Recht kommen: »Der Römerbrief, wie alle Texte der Bibel, ist ein offener Text, der uns als Leser braucht, wenn er sinnvoll werden soll, der seine Adressaten sucht von Anfang an, durch alle Zeiten seiner Auslegungsgeschichte hindurch bis heute.« (417)

Die üblichen Standards am Schluss (Nachweis der Erstveröffentlichungen, Literaturverzeichnis, detaillierte Register) bereiten den Band für eine regelmäßige Benutzung auf. Sein Hintergrundthema, das »Corpus Judaeo-Hellenisticum Novi Testamenti«, öffnet einen weiten Horizont. Der Ansatz einer wechselseitigen Wahrnehmung zwischen Frühjudentum und Neuem Testament ist – auch dank N.s langjährigem Bemühen – zu einer unverzichtbaren Dimension exegetischer Arbeit geworden.