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Ausgabe:

Juni/2023

Spalte:

571-583

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Müller, Peter

Titel/Untertitel:

Kolosserbrief.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2022. 440 S. m. 10 Abb. = Meyers kritisch-exegetischer Kommentar über das Neue Testament, 9/2. Lw. EUR 110,00. ISBN 9783525573334.

Rezensent:

Joel White

In dieser 16. Auflage des Kolosserkommentars der renommierten Reihe Kritisch-exegetischer Kommentar über das Neue Testament aus der Feder von Peter Müller, Senior Professor an der Pädagogischen Hochschule in Karlsruhe, hat Eduard Lohses Beitrag (15. Aufl., 1977) einen würdigen Nachfolger gefunden. Sachlich und mit geschultem Auge legt M. den Kol vor dem Hintergrund des philosophischen und religiösen Umfelds Kleinasiens im späteren 1. Jh. aus.

Leserinnen und Leser wünschen sich von einer Rezension über einen Kolosser-Kommentar u. a. Auskunft über ein paar in der Forschung umstrittene Themen. Dieser Wunsch soll auch hier erfüllt werden. 1. M. hält den Kol für ein Pseudepigraphon. Geschrieben sei er von einem »Christ der zweiten christlichen Generation«, der »offensichtlich in paulinischer Tradition« steht (400). Der Kol sei gegen 80 n. Chr. entstanden, entstamme dem Lykostal und sei an dortige Gemeinden adressiert. 2. Die Position der Gegner sei eine reale, wenn auch nicht in allen Details greifbare, in sich mehr oder weniger zusammenhängende Lehre, die Wert auf Engelverehrung, Speisevorschriften und Weisheit lege und unter den Adressaten an Einfluss gewonnen habe. Es handle sich dabei um eine »Kombination von Traditionen, kultischen Vorstellungen und Verhaltensanweisungen«, die in der hellenistischen Umwelt weit verbreitet gewesen seien und hauptsächlich aus paganen, eventuell auch aus jüdischen Quellen gespeist worden seien (272). 3. Das Christuslied (1,15–20) sei ein zweiteiliges frühchristliches Traditionsstück, dem der Autor an einer Stelle eine Erläuterung hinzugefügt habe – τῆς ἐκκλησίας in 1,18a. Das Lied sei eine im Umfeld der sich formierenden christlichen Gemeinden entstandene Eigenkomposition, die sich hellenistischer bzw. hellenistisch-jüdischer Traditionen bediente, um diese Gemeinden von »dem unbedingten Vorrang Christi als Schöpfungsmittler und Versöhner« zu überzeugen (186–187). 4. Die Haustafel (3,18–4,1) sei eine an frühchristliches Traditionsgut angelehnte Eigenkomposition, die sich keinem einzelnen religionsgeschichtlichen Hintergrund bzw. keiner einzelnen antiken Gattung zuordnen lasse. Sie sei als Versuch zu würdigen, den christlichen Glauben im damaligen Kontext alltagstauglich zu machen.

Das sind mehr oder weniger Mainstream–Positionen der neutestamentlichen Forschung. Eigene Akzente setzt M. in der Einführung mit seiner Fokussierung auf verschiedene »Sinnlinien« bzw. »mehrfach wiederkehrende Elemente« (58), die den Kol zu einem kohärenten Schreiben machen, und in seinen Exkursen. Zwei Exkurse verdienen besondere Beachtung: 1. M. betrachtet die in der angelsächsischen Exegese einflussreiche »anti-imperiale Lektüre« des Kol – m. E. zurecht – mit Skepsis (240–241). 2. M. zögert aus nachvollziehbaren Gründen von einer »Paulusschule« zu sprechen (407–412).

M.s Ausführungen und Schlüsse zur Verfasserfrage lassen jedoch methodische Anfragen aufkommen. Diese betreffen nicht nur M., dessen Methode in der Forschung (insbes. im deutschsprachigen Raum) weit verbreitet ist. Gerade aus diesem Grund soll sie hier kurz erörtert werden. M. verweist zuerst auf die »Sprach– und Stileigentümlichkeiten« des Kol und insbesondere auf die Arbeit von Walter Bujard (Stilanalytische Untersuchungen zum Kolosserbrief [1973]), hinter die »nicht zurückgegangen werden« könne (72). Das mag sein (auch wenn Bujards Ergebnissen in der angelsächsischen Forschung nie so viel Gewicht zugemessen wurde wie in der deutschsprachigen), aber man darf auch nicht bei ihr stehenbleiben. M. rezipiert die Diskussion bis in die 1990er Jahre. Neuere Studien, unterstützt durch ausgereiftere Computeranalysen, stellen ernsthaft in Frage, ob das Corpus Paulinum einen Mindestumfang hat, der belastbare stylometrische Ergebnisse liefern kann (B. White). Weiterhin zeigen sie, dass einige der Protopaulinen im selben Ausmaß von einer stilistischen Norm abweichen wie die vermeintlichen Deuteropaulinen (J. van Nes). Und sie lassen aufgrund der häufigen Beteiligung von Sekretären in der Antike die Frage aufkommen, ob es überhaupt rein paulinische Paulusbriefe gibt, die allein von Paulus ohne Mitwirken einer sich abwechselnden Gruppe von Mitarbeitern verfasst wurden und darum als Kontrollinstanz in Fragen der Sprache und des Stils fungieren können (S. McKnight).

Solche Forschungsergebnisse verlangen m. E. größere methodische Vorsicht im Umgang mit den Sprach- und Stileigentümlichkeiten des Kol. Diese Sachlage hat Udo Schnelle in seiner NT-Einleitung erkannt (363): »Die Sprach- und Stileigentümlichkeiten allein können die deuteropaulinische Verfasserschaft des Kol nicht erweisen.« Dass sie dies »erst in der Verbindung mit den inhaltlich-theologischen Besonderheiten des Briefes« können, heißt im Grunde: Sie können es nicht!

Ist aber nicht die gleiche methodische Vorsicht im Umgang mit den theologischen Besonderheiten des Kol geboten? Je mehr das stilistische Argument an Überzeugungskraft verliert, desto mehr Gewicht wird dem inhaltlichen Argument zugemessen. Z. B. stellt M. nach einem Vergleich von dreizehn »theologischen Hauptlinien« des Kol mit Aussagen in den unumstrittenen Paulinen (366–392) fest, dass der Kol in allen Themenbereichen »charakteristische Unterschiede« aufweist. Diese Beobachtung veranlasst ihn zu der zuversichtlichen Behauptung: »Zusammengenommen lassen [diese Unterschiede] keinen anderen Schluss als den zu, dass der Kolosserbrief nicht von Paulus geschrieben sein kann« (392).

Aber analog zu den inzwischen weithin anerkannten methodischen Schwächen bei der Einschätzung von paulinischen Sprache- und Stileigentümlichkeiten muss man fragen, ob diese Vorgehensweise tragfähig ist. Denn M. vergleicht den Kol mit den unumstrittenen Paulinen, als wären diese ein einheitliches Werk, bleibt seinen Lesern aber eine Gegenprobe schuldig. Fielen denn nicht vergleichbare »charakteristische Unterschiede« auf, wenn man die theologischen Akzente des Gal oder des 1Kor mit der Theologie der übrigen unumstrittenen Paulinen vergliche? Wären im Licht solcher Gegenproben die theologischen Besonderheiten des Kol so auffällig wie M. behauptet (392–394)? Der Phil erwähnt den Geist genauso selten wie der Kol und beschäftigt sich genauso wenig mit der Macht der Sünde. Der 1Thess ist (abgesehen von dem Abschnitt 2,13–15, den viele Forscherinnen und Forscher für eine spätere Glosse halten) genauso wenig am Geschick Israels interessiert wie der Kol. Hätte nicht jeder Brief eine Vielzahl theologischer Eigentümlichkeiten vorzuweisen, wenn man die gleiche Methode auf alle Paulinen anwenden würde?

Wer die unumstrittenen Paulinen (trotz ihrer inhaltlichen Vielfalt) als monotonen Maßstab heranzieht, an dem gemessen verwandte theologische Aussagen nicht paulinisch sein können, steht zudem in der Gefahr, einem der genialsten christlichen Schriftsteller, den es je gegeben hat, einen recht begrenzten theologischen Horizont zuzutrauen. Und er ist zu der Annahme gezwungen, dass erst ein Nachahmer der zweiten Generation fähig war, die Christologie des Paulus kosmisch, seine Ekklesiologie universal, seine Eschatologie (auch) realisiert zu denken. Erst er war in der Lage, sich auf neue aufkommende theologische Herausforderungen einzulassen und dafür kreative Lösungen zu formulieren. Ich gestehe: Mir fällt es schwer zu glauben, dass ein »Deutero-Paulus« eher dazu in der Lage war als Paulus selbst.