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Ausgabe:

Juni/2023

Spalte:

578-581

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Maier, Daniel

Titel/Untertitel:

Das Glück im antiken Judentum und im Neuen Testament. Eine Untersuchung zu den Konzepten eines guten Lebens in der Literatur des Zweiten Tempels und deren Einfluss auf die frühchristliche Wahrnehmung des Glücks.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2021. XIX, 520 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2. Reihe, 552. Kt. EUR 134,00. ISBN 9783161598647.

Rezensent:

Karl-Wilhelm Niebuhr

In dem vorliegenden Buch, einer Münchener Dissertation aus dem Jahr 2020, unternimmt Daniel Maier den »Versuch, sich mit dem Glück als wissenschaftlichem Objekt zu beschäftigen« (VII), genauer gesagt, »historisch-kritisch auf Grundlage der Umwelt der biblischen Bücher darzulegen, welche Glücksvorstellungen sich in den Texten finden« (4 f.), um »die Konturen des authentischen frühchristlichen Glücks, wie es in den neutestamentlichen Schriften zu finden ist, zu schärfen« (5 f.). Die Arbeit besteht aus 16 Kapiteln, untergliedert in vier Teile. Teil I hat einleitenden, Teil IV zusammenfassenden Charakter. Den Kern bilden die Teile II »Das Glück im antiken Judentum« (25–240) und III »Das Glück im Neuen Testament« (241–428). Aus der Fülle frühjüdischer Texte werden das Jubiläenbuch, Philon und Josephus herausgegriffen (im neutestamentlichen Teil kommen weitere hinzu, alttestamentliche sind breit berücksichtigt; Stellenregister: 483–507). Im Neuen Testament stehen Lukas, Paulus und Johannes im Mittelpunkt. Die Auswahl folgt einem inhaltlichen Kriterium (»Stellen zum glücklichen Leben«, 243).

Damit stellt sich die Frage nach dem Design der Studie. Im knappen Blick auf die Forschungslage stellt der Vf. fest, dass es text- bzw. autorenübergreifende Untersuchungen zum Thema bisher nicht gibt und für den Ursprung neutestamentlicher Glücksvorstellungen pauschal auf »den Hellenismus« verwiesen wird. Da aber die NT-Schriften ihren Ursprung eindeutig im antiken Judentum haben, sei »dessen Einfluss auf deren Glücksvorstellungen kaum zu überschätzen, während bei der Interpretation von aristotelischen bzw. stoischen Glücksidealen innerhalb der Texte eher Vorsicht geboten« sei (9). Die untersuchten frühjüdischen Quellen sollen »sowohl geographisch als auch temporär eine weite Bandbreite der Glücksvorstellungen« abdecken (10). Neutestamentliche Texte sollen »auf die (aus den frühjüdischen Quellen – KWN) herausgearbeiteten Konzepte untersucht werden«, wobei sich »sowohl Übernahmen von genuin jüdischen Konzepten des Glücks als auch deren Weiterentwicklungen unter den geänderten Voraussetzungen des Christusgeschehens beobachten« lassen (11). Der Begriff »Glück« wird durch »Gegenüberstellung des antiken und modernen Glücksbegriffs« näher bestimmt, wobei antike ethische Diskurse freilich kaum diskutiert werden, sondern auf Aspekte der Emotionsforschung verwiesen wird (15–24).

Die Bedeutung des Jubiläenbuches sieht der Vf. darin, dass im Vergleich zu Philon und Josephus hier »scheinbar genuin jüdische Vorstellungen zu dem gelingenden Leben« vorliegen und »die emotionalen Zustände der Personen« ausführlicher als in der der Genesis dargestellt werden (31). Nach Hinweisen zu den Einleitungsfragen und einem Überblick zur Terminologie werden Passagen zu Abraham, den jüdischen Festen, Adam und Eva und zur Heilszeit näher untersucht. Daraus ergibt sich, dass im Jubiläenbuch »eine ganze Bandbreite von Beschreibungen positiver Gemütszustände« begegnet, »die in den meisten Fällen in Verbindung mit Gott stehen« (98). Die Frage nach dem geistig-religiösen Ursprung von Elementen, die über die alttestamentlichen Vorgaben hinausweisen, lässt der Vf. offen, ist aber gegenüber einer zu starken Betonung des hellenistischen Kontextes erkennbar skeptisch.

Solche Kontexte lassen sich für Philon natürlich nicht in Abrede stellen, wie sich schon anhand der vorherrschenden Wortfelder zum Thema zeigt (vor allem εὐδαιμονία und μακάριος). Näher untersucht der Vf. VitCont, Prob, Virt, Praem sowie die Darstellung Abrahams in Abr, Her, Det u. a. Anschließend fragt er nach philosophischen Einflüssen (162–169), bevor er »Philons genuines Glückskonzept« beschreibt (169–173). Philon habe sein Verständnis vom glücklichen Leben zwar hellenistischer Terminologie angenähert, aber das griechische Streben nach Tugend mit den jüdischen Forderungen der Tora verbunden. Diese Harmonie sah er in idealisierten Gruppen wie den Therapeuten und Essenern, aber auch in biblischen Idealgestalten wie Abraham oder Mose exemplarisch verkörpert. Einen Unterschied zu den biblisch-jüdischen Vorgaben sieht der Vf. in Philons Konzentration auf den Einzelnen, wodurch die biblischen Verheißungen für Israel weitgehend aus dem Blick geraten und stattdessen das ganze Menschengeschlecht eine Perspektive höchster Glückseligkeit gewinnt (so z. B. in Virt 119).

Auch für Josephus ist die Verbindung von Streben nach εὐδαιμονία und Treue zur Tora charakteristisch. Der Vf. erhebt wiederum zunächst aus dem Gesamtwerk die einschlägige Terminologie und wendet sich dann einzelnen Passagen zu. Er beginnt mit ausgewählten Abschnitten aus den ersten Büchern der Antiquitates (185–191) und untersucht dann genauer Abraham als »Archetyp des glückseligen Mannes« (210–221). Zusammenfassend (222f.) identifiziert er eine doppelte Intention in den Aussagen des Josephus zum Glück: Nach innen will er jüdische Leser durch Erinnerung an die Vorväter und deren erfolgreiches Streben nach Glück dazu motivieren, an den Gesetzen des Mose festzuhalten. Nach außen will er angesichts von Vorwürfen und Angriffen das Judentum verteidigen und konsolidieren.

Eine theologische Grundlegung des Glücksverständnisses arbeitet der Vf. abschließend als das Verbindende der frühjüdischen Texte heraus (224–240), wobei die Abraham-Figur im Jubiläenbuch, bei Philon und Josephus die Leitlinie bildet. Ohne literarisch oder traditionsgeschichtlich voneinander abhängig zu sein, entfalten sie auf der Grundlage biblisch-jüdischer Überlieferung je unterschiedlich ihr religiös begründetes Verständnis von Glück.

Der neutestamentliche Teil lässt sich weniger klar zusammenfassen. Das liegt nicht nur an der Methodik und der damit verbundenen Textauswahl (das »Modell der Cultural Codes«, das 245–248 knapp eingeführt wird, kann diese Aufgabe kaum leisten), sondern auch an der Fülle der behandelten ganz unterschiedlichen Textausschnitte. Schon die semantischen Überblicke (248–255) stellen Wortfelder zusammen, die allenfalls über das deutsche Wort »Glück« (in seiner auf Emotionen bezogenen Verwendung) mit- einander verbunden sind, nicht aber über konkrete Verwendungen im Griechischen oder gar in neutestamentlichen Texten (u. a. ἡδονή, εὐδοκία, εὐαγγέλλιον, ἀγαλλίασις, εὐφραίνειν, εὐλογία, εἰρήνη).

In nicht näher begründeter Reihenfolge werden behandelt: verschiedene Abraham-Stellen (»Abrahams Schoß« nach Lk 16,22 im Lazarus-Gleichnis, Abrahams Jubel über den Tag des Kommens Jesu nach Joh 8,56, der Makarismus über Abraham nach Röm 4,9f.), die Makarismen der Bergpredigt (mit einem langen Exkurs zu deren Traditionsgeschichte im AT und der frühjüdischen Literatur, den man eher im 1. Hauptteil suchen würde, 283–311), sodann eschatologisch konnotierte Stellen, die unter der Überschrift »Die Verheißung des Heils – Das Glück im Reich Gottes« versammelt sind (darunter der Schächer am Kreuz, Lk 23,39–43, der Ausblick auf das Brotessen im Gottesreich, Lk 14,15, und die zweite Vaterunser-Bitte). Das Pauluskapitel geht nur auf den Philipperbrief näher ein. Bei Lukas werden das Magnificat und daran anknüpfende »positive Emotionen« (393) behandelt, bei Johannes wegen des gehäuften Vorkommens von χαρά der Textkomplex Joh 15–17 und verwandte Stellen aus den Briefen. Als »Ertrag und Schlussgedanken« (431–451) versucht der Vf., »die verbindenden und trennenden Elemente des Glücksbegriffs zur Zeit des Zweiten Tempels in der Zusammenschau zu bestimmen« (435). Es ergibt sich, »dass sich das Glück in der Zeit des Zweiten Tempels auf ganz unterschiedliche Weise äußern konnte«, abgesehen von der Gemeinsamkeit, »dass Gott der letztendlich Verantwortliche hinter allem Glück des Menschen ist« (437 f.).

Positiv zu würdigen an der vorliegenden Dissertation sind die textbezogenen Kapitel zur frühjüdischen Literatur. Hier bewegt sich der Vf. auf der Höhe der aktuellen Spezialforschung. Hervorzuheben ist die heute seltene, wohl durch seinen Doktorvater Loren Stuckenbruck angeregte philologische Kompetenz im Ge‘ez bei der Analyse des vollständig nur äthiopisch überlieferten Jubiläenbuches. Auch die Passagen zur frühjüdischen Rezeption der Abraham-Gestalt unter der Leitfrage nach dem »Glück« erbringen neue Aspekte. Demgegenüber weist die Arbeit im neutestamentlichen Teil in methodischer Hinsicht wie auch im Blick auf die antiken Kontexte der behandelten Texte erhebliche Schwächen auf. Die Leitfrage nach dem »Glück« kann m. E. auf antike Texte nur sinnvoll gerichtet werden, wenn zuvor die Diskurszusammenhänge erhoben werden, in denen eine solche Frage in der Antike bearbeitet worden ist. Das sind aber eindeutig Diskurse der philosophischen Ethik, nicht solche der Emotionsforschung, wie sich allein schon an der Erhebung der einschlägigen griechischen Wortfelder und der Zentralstellung des Stichworts εὐδαιμονία zeigen lässt, und zwar ganz unabhängig von der Beurteilung hellenistischer Einflüsse auf biblisch-jüdische Texte. Dass es im Neuen Testament ebenso wie in der Septuaginta fehlt, während es bei Philon und Josephus breiten Raum einnimmt (vgl. dazu 105–114), hätte einen Fingerzeig darauf geben können, eine vergleichende Untersuchung antiker Texte möglichst nicht unter den auch im Deutschen durchaus interpretationsbedürftigen Leitbegriff »Glück« zu stellen.

Von einer vertieften Beschäftigung mit solchen antiken Diskursen ist in der vorliegenden Arbeit leider wenig zu sehen. Die knappen Hinweise auf gegenwärtige psychologische Forschungen können das nicht ersetzen und bleiben an der Oberfläche; auf die Textanalysen haben sie kaum Einfluss. Darüber hinaus sind im neutestamentlichen Teil die exegetischen Analysen und ihre Einbindung in die aktuelle Forschungsliteratur sehr lückenhaft, was freilich bei einer derartigen Fülle von behandelten Texten und Schriften kaum verwundert. Es fehlt vor allem an klar definierten Kategorien der Textauswahl und an einer reflektierten Methodik der komparativen Analyse. »Glück« ist eben ein denkbar ungeeigneter Marker dafür.

Schließlich fallen Unebenheiten im Aufbau der Darstellung auf. So fragt man sich, warum der Exkurs zur Freude in der hebräischen Bibel mitten im Kapitel zum Jubiläenbuch steht (60–62), der zu philosophiegeschichtlichen Zusammenhängen bei Philon mitten im Abschnitt zu den Therapeuten (125–127) oder der zur zeitgenössischen Psychologie als Unterpunkt zu einer Übersetzungsfrage (87 f.). Auch manche stilistischen und begrifflichen Unschärfen und Ungeschicklichkeiten trüben den Gesamteindruck. Gleichwohl soll nicht in Abrede gestellt werden, dass die Untersuchung ein wichtiges biblisch-theologisches Thema aufgegriffen hat, das für aktuelle kirchliche und gesellschaftliche Diskussionen anschlussfähig ist, und dafür ausgewählte frühjüdische und neutestamentliche Texte bereitstellt.