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Ausgabe:

Juni/2023

Spalte:

574-576

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Frey, Jörg

Titel/Untertitel:

Vom Ende zum Anfang. Studien zum Johannesevangelium. Kleine Schriften IV. Hg. v. R. A. Bühner.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2022. XI, 972 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 492. Lw. EUR 249,00. ISBN 9783161616983.

Rezensent:

Klaus Scholtissek

Zehn Jahre nach seiner ersten umfangreichen Aufsatzsammlung zum Johannesevangelium (Die Herrlichkeit des Gekreuzigten. Studien zu den Johanneischen Schriften I, Tübingen 2013, rezensiert von K. Scholtissek: ThLZ 139 [2014] 576-579) liegt jetzt eine zweite, ebenso umfangreiche Aufsatzsammlung von Jörg Frey zum vierten Evangelium vor. Beide Aufsatzsammlungen markieren und dokumentieren den Stand der internationalen Johannesforschung in den ersten zwei Dekaden des 21. Jh.s, wie sie maßgeblich von F. selbst vorangetrieben und begründet worden ist. F. versteht beide Bände, in denen sich seine 40-jährige akademische Beschäftigung mit dem JohEv niederschlägt, als Vorbereitung, Grundlegung und Absicherung für den in Aussicht stehenden Johanneskommentar in der Reihe EKK (»sub conditione Jacobea (Jak 4,15) – mein Lebenswerk«; 1).

Die Aufsatzsammlung umfasst 30 bereits an anderen Orten publizierte Aufsätze (vgl. den Nachweis der Erstveröffentlichungen 913–917) und einleitend den unveröffentlichten Beitrag »Vom Ende zum Anfang – mein Weg mit dem Johannesevangelium« (1–30). Dieser Beitrag bietet einen gut nachvollziehbaren, biographisch und forschungsgeschichtlich grundierten Rückblick und Überblick über die Johannesinterpretation von F. im Kontext der Johannesforschung insgesamt. Dieser Beitrag fasst die Entwicklungen und Positionen des Verfassers sehr gut zusammen und ist daher allen Forscherinnen und Forschern sowie ausdrücklich auch allen Interessenten sehr zu empfehlen. Die exegetischen Vertiefungen, Diskurse und Argumentationswege finden sich in den 30 Aufsätzen, auf die jeweils verwiesen wird und die hier nicht einzeln besprochen werden können.

Im einleitenden Beitrag wird das leitende Koordinatensystem der Johannesauslegung aus der Sicht des Verfassers vor Augen geführt und in ihrer Genese begründet: Es gilt »die Sprache und die Sprachkompetenz des vierten Evangelisten ernst zu nehmen und nicht vorschnell und ›besserwisserisch‹ nach dem Gemeinten hinter dem Gesagten zu suchen« (4). Leitend ist sodann die Wahrnehmung des Evangeliums als Erzählung, also die Berücksichtigung der »narrativen Ausgestaltung«, exemplarisch im Blick auf die Zeit-Perspektiven. Hier sind insbesondere die nachösterliche Sichtweise, die damit verbundene Verschmelzung der Zeiten sowie die johanneische Hermeneutik der Erinnerung auszuwerten (vgl. die Beiträge 3 und 4; Beitrag 4 schließt mit der Zusammenfassung: »In seiner Person sind die Zeiten eins« [102]).

F. bekennt sich zu einer reflektierten, selbstkritischen Hermeneutik biblischer Exegese, die um die eigenen Verstehensvoraussetzungen und potentiellen Grenzen nicht nur weiß, sondern diese auch transparent diskutiert (vgl. 5). Exemplarisch steht hierfür seine Trilogie zur johanneischen Eschatologie (Jörg Frey, Die johanneische Eschatologie I–III, Tübingen 1997.1998.2000), die die Forschungsgeschichte mit ihren offenen oder versteckten systematischen Implikationen evaluiert und dabei insbesondere die teils exzessiven literarkritischen Operationen dekonstruiert.

Das JohEv ist für F. eine literarische und theologische Einheit, das 21. Kapitel »ist […] historisch und theologisch vom Grundbestand des Evangeliums nicht weit weg abzurücken« (6). Als Verfasser des JohEv sowie der drei Johannesbriefe kommt für F. der presbyteros aus 2Joh 1,3 am ehesten in Betracht (vgl. auch den bei Papias genannten Presbyteros), »wenn man es überhaupt wagt, den johanneischen Autor mit einer anderwärts bekannten Person zu identifizieren« (7). F. wendet sich in diesem Zusammenhang auch gegen »ahistorische« bzw. »geschichtsvergessende« Ansätze, die den »Geschichtsbezug des christlichen Glaubens, ja seine inkarnatorische Konkretheit« (8f) ausblenden (vgl. 13–16.19 f.; vgl. Beitrag 7). Gleichzeitig wendet sich F. gegen ein Ausspielen der »historischen Fokussierung« gegen eine »theologische Interpretation der neutestamentlichen Texte« (9), die die Texte aus sich selbst heraus einfordern (vgl. hierzu auch seinen Aufsatz: »Die johanneische Theologie als Klimax der neutestamentlichen Theologie [2010], in: Ders., Die Herrlichkeit des Gekreuzigten [s. o.], 803–833; vgl. auch den Beitrag 22 zur Theologie im JohEv).

Die »historische Kontextualisierung« des JohEv kann nicht unterkomplex und monokausal auf eine zeit- und/oder religionsgeschichtliche Konstellation zurückgeführt werden. Weiterführend sind Spuren und Verbindungslinien zur jüdischen Diaspora Kleinasiens (10–12.17f.21 f.; vgl. auch die Beiträge 5 [zum johanneischen Logos] und 27–29). In diesem Kontext ist auch das Verhältnis des JohEv zu seinen jüdischen Wurzeln differenziert zu betrachten. F. sieht im fiscus judaicus einen möglichen Katalysator für die sogenannte »Trennung der Wege« (vgl. 30.789ff.858f.863–869; vgl. die Beiträge 27–31).

F. fordert eine fundierte, breite Berücksichtigung der alttestamentlichen, frühjüdischen und zeitgenössischen Quellen ein, die nicht »durch immer neue Modelle, Moden und Methoden« (9) ersetzt werden darf. Maßgebliche Bezugstexte sind alttestamentliche und frühjüdische Schriften »angesichts der Tatsache, dass das frühe Christentum zunächst eine jüdische messianische Bewegung war, und dass die Entwicklung der frühjüdischen Christologie und Theologie gänzlich auf der Grundlage (hellenistisch-)jüdischer Traditionen erfolgt ist« (9; vgl. auch weiterführend 19–22; vgl. auch den Beitrag 26 zum Einfluss der LXX auf die Sprache des vierten Evangelisten).

Der Verfasser rechnet damit, dass der Evangelist Johannes das MkEv kannte, es selektiv aufnimmt und »umformt« (11; vgl. ebd. Fußnote 37 und die Beiträge 8 und 14 [»From the ›Kingdom of God‹ to ›Eternal Life‹«]). Charakteristisch für die Johannesexegese F.s ist die Fähigkeit, die verschiedenen sprachlichen, religionsgeschichtlichen und hermeneutischen Fragestellungen und Diskurse in der ihnen eigenen Komplexität, Mehrdimensionalität und bewussten Ambivalenz an- und ernstzunehmen. F. spricht in diesem Zusammenhang von der »kulturvermittelnden Kompetenz« (22) des Evangelisten. Der Versuchung zu schablonenhaften Lösungen widersteht er mit entsprechenden Textbeobachtungen. So kann z. B. auch die Wirkungs- bzw. Rezeptionsgeschichte die Auslegung bereichern (vgl. 20; vgl. auch die Beiträge 10 [kritisch zu einem johanneischen Doketismus]; 11 [zu Joh 2,1–11]; 12 [zu Joh 9,1–41]). Dem Evangelisten steht eine Vielzahl von erzählerischen Stilmitteln zur Verfügung, sei es Ironie (vgl. den Beitrag 19 [»Jesus und Pilatus«]), sei es die semantische Verdichtung der Verben der Wahrnehmung (vgl. die Beiträge 18 [zur johanneischen »Sehschule des Glaubens«] und 24 [»Glauben und Lieben im JohEv«]).

Eine Schlüsselthese durchzieht die Johannesauslegung F.s, sie hat der Aufsatzsammlung auch ihren Namen gegeben: »Die Logik der johanneischen Theologie (führt) kompositionell, sachlich und historisch ›vom Ende zum Anfang‹: Am Anfang waren Messianismus und Eschatologie, während die Protologie, die Rede von dem uranfänglichen Logos und seiner Herrlichkeit ›bei Gott‹, mit der das Evangelium einsetzt (Joh 1,1–2), erst späte Konsequenz eines langen Denkweges ist.« (25; vgl. auch die Beiträge 2; 6 [johanneische Christologie und prototrinitarische Relationen]; 7 [zu Joh 1,14]; 9 [»Jesus als Bild Gottes im Johannesevangelium«]; 22)

Die Aufsatzsammlung ist für die Johannesforschung selbst von überragender Bedeutung und eine Fundgrube für zukünftige Studien. Sie weist aber auch weit über die Auslegung des JohEv hinaus: Methodische und hermeneutische Standards der Schriftauslegung finden hier exemplarische Anwendung und Erpro-bung – in Bewährung oder auch in kritischer Zurückweisung. Das hier erreichte Niveau ist beeindruckend und setzt Maßstäbe. Es ist dann auch nicht überraschend, dass eine entscheidende Dimension der Textauslegung nicht ausgeblendet wird – die persönliche Aneignung: »Als Interpret stehe ich damit vor der Aufgabe, vom Erklären und Einordnen zurückzukommen zum Verstehen nicht nur des Textes, sondern auch meiner selbst.« (30)

Der Aufsatzband ist – für die WUNT-Reihe und den Verlag vertraut – vorbildlich ediert und dank der Arbeit des Herausgebers Ruben A. Bühner mit sorgfältig abgestimmten Registern erschlossen.