Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juni/2023

Spalte:

569-571

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Neumann, Nils, u. Anna-Lena Senk [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Emotionen in der Bibel und ihrer Welt.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2022. 197 S. m. 5 Abb. = Biblisch-Theologische Studien, 192. Geb. EUR 69,00. ISBN 9783525560808.

Rezensent:

Petra von Gemünden

Der von Nils Neumann (Professor für Biblische Theologie in Hannover) und Anna-Lena Senk (wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Biblische Theologie daselbst) herausgegebene Sammelband wurde angestoßen durch eine Summer School zum Thema »Emotionen« – einem Thema, dem seit ca. 25 Jahren in den Geisteswissenschaften ein ausgesprochen hohes Interesse entgegengebracht wird. Immer wieder wird sogar von einem emotional oder affective turn gesprochen. In der Theologie jedoch, besonders in der deutschsprachigen biblischen Forschung, wurde dieser Themenkomplex lange mit Skepsis betrachtet, wie die Einleitung zu diesem Sammelwerk (11–21) richtig feststellt. Die Anfänge einer Änderung dieser ablehnenden communis opinio in den Bibelwissenschaften machen die beiden Herausgeber in den 1980er Jahren in Heidelberg aus, wobei die beiden Impulsgeber – G. Theißen und K. Berger – ziemlich konträre Forschungsansätze verfolgten (12 f.). Erst in den letzten zehn Jahren zeige sich ein deutlicher Anstieg der exegetischen Forschungen in diesem Themenbereich, der immer weitere Ausdifferenzierungen mit sich bringe, an dem jedoch, wie S. 13 nicht deutlich wird, auch Forscher und Forscherinnen »Heidelberger Prägung« beteiligt waren.

Das Buch bietet sodann fünf Studien – eine zum Alten Testament, eine zu dessen Rezeption im Jubiläenbuch, drei zum Neuen Testament. Die ersten drei sind historisch-kritisch ausgerichtet, die letzten beiden sind von der Narratologie inspiriert und suchen diese für die Exegese fruchtbar zu machen.

David Bindrim präsentiert unter dem Titel »Kabale und Liebe im alten Israel. Ergebnisse einer gemeinsamen Exegese von 1Sam 18« die Bedeutung und Funktion des Begriffs בהא (lieben) im Blick auf die Beziehung unterschiedlicher Figuren (v. a. Jonatan, Michal und das Kriegsvolk) zu David (23–49). Die Liebe Davids gegenüber Jonatan sei schon aufgrund des Kontexts eher nicht sexuell, sondern als (politische) Freundschaft zu interpretieren, während die Zeichnung der (nicht weiter motivierten) Liebe Jonatans gegenüber David durch tiefe Emotionalität charakterisiert sei (1Sam 18,1.3) und in der Folge Jonatans selbstloses Verhalten bestimme. 1Sam 18 erweise בהא als einen Begriff, der vom »Gernhaben über Favorisieren bis hin zu sexuellem Verlangen« reiche (46). Dem Jubiläenbuch wendet sich Daniel Maier mit seinem Beitrag »Wie das Glück in die Erzählungen von Genesis und Exodus kam: Positive Emotionen im Buch der Jubiläen« zu (51–70). Er stellt – wenig überraschend für die Entstehungszeit des Jubiläenbuchs – fest, dass diese Nach- erzählung im Vergleich zu ihren Vorlagen Genesis und Exodus eine signifikante Ausweitung (positiver) Emotionen erkennen lässt: Die Patriarchen fungieren als »Vorbilder des glücklichen Lebens« (53), und die amplifizierende Betonung positiver Emotionen bei Festen fordert die Adressaten nicht nur zu entsprechendem Leben auf, sondern will ihnen deutlich machen, dass sie deshalb der in ihrem hellenistisch geprägten Umfeld propagierten εὐδαιμονία nicht bedürfen. Unter dem Titel »Anschauliche Rhetorik und die Erzeugung von Furcht und Entsetzen im Markusevangelium« wendet sich Nils Neumann ausgehend vom primären Markusschluss (Mk 16,8) diesen beiden reaktiven Affekten zu (71–105). Er zeigt den Machtcharakter der Furcht und deren Verbindung zu Epiphanien auf und interpretiert φοβέομαι und ἐξίστημι κτλ. nicht nur hier, sondern auch in Mk 4–6, nicht als rein negative Affekte, sondern als adäquate Reaktionen auf das wahrgenommene Göttliche. Allein das »Übermaß des Affekts« (90) bestimmt er als problematisch und nimmt damit de facto eine peripatetische Position ein. Interessant ist sein Rekurs auf die antike Rhetorik mit ihrer Hochschätzung der ἔκφρασις/demonstratio – einer Anschaulichkeit, die sich auch in den Wunderszenen in Mk 4–6 nachweisen lässt – sie mache die Rezipierenden zu Augenzeugen, stärke ihre Wahrnehmung der (nicht klar erkennbaren) hoheitlichen Seite Jesu und verhindere so ein Überhandnehmen der Furchtaffekte. Das ermögliche ihnen, »sich die markinische Christologie […] anzueignen« (101). Die Methodik einer »emotiven Textanalyse« stellt Tanja Smailus (vormals: Dannemann) in »Der emotionale Rezeptionsvorgang und seine Bedeutung für die Untersuchung narrativer Ethik« vor und führt diese exemplarisch an Mt 25,14–30 durch (107–128, vgl. auch ihre Dissertation).

S. betont zunächst (anders als viele sozialkritisch orientierte Exegeten und Exegetinnen) das niedrige Empathiepotential der Figur des Sklaven, der aus Furcht das ihm anvertraute Geld vergraben hat. Diese dürfte jedoch bei den Rezipierenden (mit deren Gerichtsfurcht) infolge der drastischen Strafe des Herrn (Mt 25,30) eine empathisch-sympathische Neubewertung erfahren haben. Folglich sei zwischen einer negativ-paralysierenden Angst und einer zu ethischer Handlung motivierenden Furcht zu unterscheiden (123 f.). Dem fast ausschließlich in der Apg verwendeten Begriff ὁμοθυμαδόν wendet sich Anna-Lena Senk in ihrem Beitrag: »Szenen der Einmütigkeit – ὁμοθυμαδόν als emotionaler Anker innerhalb der Apostelgeschichte« (129–194) zu. Im Gegensatz zu H. W. Heidlands einschlägigem ThWNT-Artikel zeigt S. in Textanalysen, dass ὁμοθυμαδόν durchaus eine – mit »Liebe« und »Aggression« näher zu beschreibende – emotionale Komponente beinhalten kann. Ersterer sind die mit Freude und Furcht verbundene Gemeinde- und Aposteleinmütigkeit, letzterer die mit Zorn und Hass verbundene oppositionelle Einmütigkeit (der Gegner) zuzuordnen, wobei im Text über ὁμοθυμαδόν sowohl auf der narrativen als auch auf der emotionalen Ebene eine Kohärenz etabliert wird.

In dem Buch wäre eine nähere Reflexion des Anachronismusproblems und (hinsichtlich der Stoa) der προπάθειαι interessant gewesen. Es stellt gleichwohl ein erfreuliches weiteres Mosaikstück in der Erforschung der Emotionen in der »Bibel und ihrer Welt« dar.