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Ausgabe:

Mai/2023

Spalte:

523-525

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Zorn, Sabine

Titel/Untertitel:

Eines Christen Handwerk ist beten. Der Ort des Stundengebetes in der evangelischen Gottesdienstlandschaft.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2022. 269 S. = Praktische Theologie heute, 184. Kart. EUR 49,00. ISBN 9783170425965.

Rezensent:

Dorothea Wendebourg

Diese Studie gilt einem Thema, das in der Liturgiewissenschaft, aber erst recht in der gottesdienstlichen Praxis wenig Beachtung findet, dem Stundengebet im Protestantismus. Für die – nach Fertigstellung des Manuskripts, ihrer Dissertation, verstorbene – Autorin war deren Gegenstand ein Lebensthema: Als Dozentin am Institut für Aus-, Fort- und Weiterbildung der westfälischen Kirche in Villigst und als Vorsteherin des Berneuchner Dienstes war Sabine Zorn an zwei institutionellen Orten tätig, an denen das Stundengebet gepflegt wird. Die damit markierten Sitze im Leben, die kirchliche Tagung und das Leben in geistlicher Gemeinschaft, werden gleich im ersten Kapitel in der Form einer »Dichten Beschreibung« von Beispielen gegenwärtiger evangelischer Praxis des Stundengebets präsentiert. Beide Beispiele werden in »fundamentalliturgischen Hinsichten« (25−43) untersucht, d. h. in Bezug auf Raum, Akteure/Rollen, Teilhabe, Üblichkeiten, Zeit-Raum und Kontexte, welch Letztere mit dem »didaktischen Kontext« der Tagung eine moderne Ergänzung zu den alten des Mönchtums (monastisches Offizium) und der Gemeinde (Kathedraloffizium) erfahren haben (40−43). Diese Untersuchung zielt darauf, »Kriterien für die Verortung des Stundengebetes in der evangelischen Gottesdienstlandschaft und seine Qualifizierung als integrative Gottesdienstform sowohl in liturgischer wie spiritueller Perspektive zu gewinnen« (25). Zu ihrem Unternehmen herausgefordert sieht sich Z. durch die »Wende«, die sich um 1990 im gesellschaftlichen Leben, aber auch in Theologie und Kirche ereignet und hier gemäß dem von Motiven wie Spiritualität und Ganzheitlichkeit gekennzeichneten »kulturellen Zeitgeist« (151) zu einer neuen »Wahrnehmung liturgischer Formen« geführt habe (143−146).

Die angekündigte »Verortung« und »Qualifizierung« erfolgt in einem Kapitel über »Gottesdienst und Spiritualität« (143−239), derer Ertrag anschließend kurz zusammengefasst wird (240−246). Sehr ausführlich und mit vielen praktischen Beispielen wird die »evangelische Gottesdienstlandschaft« beschrieben, innerhalb deren das Stundengebet seinen Ort haben soll (158−206). Z. vermisst die Fülle der zu dieser Landschaft gehörigen Gottesdienstarten mittels eines zweiachsigen Koordinatensystems, das die Unterscheidung zwischen Großkirche und Gruppen mit der von traditionalen und innovativen Formen verbindet (163). Das Stundengebet erweise sich hier als liturgisch integrativ, insofern es zwar seiner Herkunft nach eine traditional-großkirchliche Form, aber für Innovation offen und so unterschiedlichen Gruppen zugänglich sei (221−224). Zugleich wird es als spirituell integrativ bestimmt, weil es verschiedenen Typen von Religiosität, die Z. im Anschluss an Stolz et al. als institutionell, alternativ und distanziert bestimmt, einen je eigenen Zugang ermöglicht (231−239).

Diesem praktisch-theologischen Kapitel geht eines zu »Geschichte und Form des Stundengebetes« voraus (44−142). Z. betont, dass hier nicht der Fokus ihrer Studie liege. Die von ihr verfolgte Absicht sei vielmehr »liturgiedidaktischer« Art (44). Was damit gemeint ist, präsentiert sie nicht direkt und zusammenhängend, sondern in einer Fülle einzelner und wiederkehrender Bemerkungen – und das erstaunlicherweise sehr viel mehr in diesem historischen als im praktisch-theologischen Kapitel. Sie möchte dazu beitragen, dass das Stundengebet in der evangelischen Kirche von heute (wieder) heimisch wird. Denn sie hält die Beschränkung des gottesdienstlichen Gemeindelebens auf die predigt- und sakramentszentrierte Liturgie, wie sie in der evangelischen Kirche, faktisch aber auch in der römisch-katholischen außerhalb der Klöster, gegeben sei, für eine Verarmung mit destruktiven Folgen, weil damit das regelmäßige gemeinsame Beten weitgehend untergegangen und das Beten überhaupt gefährdet sei, das doch »des Christen Handwerk« sei. Dabei zeichnet sich das Stundengebet für Z. durch einen Grundzug aus, der es als Weise gemeinsamen Betens besonders empfehle: Es ist, anders als die in ihren Augen »einseitige pastorale Sonntagsfeier« (52), unabhängig vom ordinationsgebundenen Amt. Somit ist es eigentlich eine liturgische Form, die einem reformatorischen Grundanliegen in besonderer Weise entspricht, dem allgemeinen Priestertum oder, wie Z. meist sagt, der »Teilhabe« (koinonia) aller. Dieses »gerade auch in protestantischer Perspektive zentrale Kriterium zur Bestimmung eines liturgischen Aktes/Handlungsvollzugs« bildet den »thematischen Fokus« von Z.s Behandlung des Stundengebets im historischen – nicht im praktisch-theologischen – Kapitel (44). Es bietet ihr die merkwürdigerweise nun auch »fundamentalliturgisch« genannte »Perspektive der Betrachtung der Geschichte des Stundengebetes« seit der Alten Kirche. Das aber heißt nichts anderes, als dass in der historischen Betrachtung »die evangelische Grundierung der vorprotestantischen Traditionen [freigelegt]« werden soll (50). Unter diesem Gesichtspunkt wird die Geschichte des Stundengebets von den biblischen Zeiten bis zur Reformation und dann weiter bis ins 20. Jahrhundert »rekonstruiert« und Epoche für Epoche bewertet.

Dieser Teil des Buches ist nicht nur sein längstes Kapitel, sondern auch sein schwächstes. Dass ein solcher Überblick selektiv sein und sich weitgehend auf Sekundärliteratur stützen muss, versteht sich von selbst. Aber Z. ist bei ihrer Darstellung schlicht nicht auf der Höhe dessen, was materialiter und methodisch aus der einschlägigen Literatur hervorgeht. Für das Judentum zieht sie einfach das Alte Testament als liturgiegeschichtliche Quelle heran. Die Behandlung der Alten Kirche seit neutestamentlicher Zeit ist von atemberaubender Oberflächlichkeit; das Standardwerk zum Thema, Robert Taft, The Liturgy of the Hours, kennt Z. nicht. Das Mittelalter, wahrlich keine unwichtige Epoche für die Geschichte des Stundengebets, fällt abgesehen von einer »Rückblende« (109) auf seinen Verfall im Spätmittelalter schlicht aus. Aber auch zur – Wittenberger – Reformation und zum nachreformatorischen Luthertum hat Z. wenig zu sagen, was bei ihrem Thema besonders befremdet (108−120): einige undifferenzierte Seiten zu Luther und bei ihm gegebenen Ansätzen zu einer »Transformation« des Stundengebets mit dem Fazit seines Verfalls, der bezeichnenderweise mit einem Sprung in die Epoche des Rationalismus belegt wird (117). Kein Wort zur vielfältigen evangelischen Praxis des Stundengebets im Konfessionellen Zeitalter, auf die ein Blick in die Kirchenordnungen hätte hinweisen können, d. h. auf diese Praxis nicht nur in Schulen, sondern auch in Stiften und Gemeinden. Das ist ein Feld, auf dem noch viel zu tun ist, wenn man nach Transformationen des Stundengebets durch die Reformation fragt. Die Behauptung der Einleitung von Z.s Doktorvater, ihre Untersuchung zum evangelischen Stundengebet schließe eine »Forschungslücke«, wird gerade an diesem Punkt nicht eingelöst. Ja, Z. nimmt nicht einmal die Beiträge der Forschung auf, die es dazu bereits gibt – von den vor Abschluss der Arbeit publizierten Studien von Andreas Odenthal, in denen wirklich Neuland betreten wird, hat sie mit Ausnahme eines kurzen Aufsatzes keine zur Kenntnis genommen. Kurz, ein Verzicht auf das historische Kapitel wäre der Studie zugutegekommen.