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Ausgabe:

Mai/2023

Spalte:

520-523

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Zimmerling, Peter [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Handbuch Evangelische Spiritualität. Bd. 3: Praxis.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2020. 926 S. m. 11 Abb. Geb. EUR 69,00. ISBN 973525564608.

Rezensent:

Jörg Neijenhuis

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Zimmerling, Peter [Hrsg.]: Handbuch Evangelische Spiritualität. Bd. 2: Theologie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2018. 729 S. m. 11 Abb. Geb. EUR 39,00. ISBN 9783525567203.


Der erste Band des Handbuchs Evangelische Spiritualität erschien 2017 (vgl. die Rezension von Christian Grethlein in ThLZ 2017, Sp 1279 f.). Die hier zu rezensierenden Bände 2 und 3 erschienen 2018 bzw. 2020. Während Bd. 1 die Geschichte der Spiritualität erörterte, befasst sich Bd. 2 mit der Theologie der Spiritualität anhand des Apostolischen Glaubensbekenntnisses und Bd. 3 mit der Praxis der Spiritualität anhand von Formen der Glaubenseinübung.

Der Herausgeber Peter Zimmerling legte in Bd. 1 keine Begriffsbestimmung von Spiritualität vor, sondern verzichtete vielmehr bewusst darauf. Nun wird in Bd. 2 in eine Theologie der Spiritualität eingeführt, allerdings ebenfalls ohne eine Begriffsbestimmung von Spiritualität, so dass die Kritik von Grethlein zu Bd. 1, dass hier eigentlich kein Handbuch vorliege, auch für die Bände 2 und 3 zutreffend ist. Denn dann müsste nicht nur der Begriff Spiritualität, sondern auch der Begriff Evangelische Spiritualität definiert sein, um zu bestimmen, welche Themenbereiche denn nun in einem Handbuch vorkommen sollen bzw. müssten.

Bd. 2 wird mit Überlegungen zur Interdependenz zwischen Spiritualität und Theologie eingeleitet, wobei Bildung in Bezug auf evangelische Spiritualität eine besondere Beachtung verdient, weil seit der Reformation Glaube und Bildung korrelativ verstanden werden. Es schließen sich zahlreiche Klagen über den Mangel an Spiritualität in evangelischen Kirchen an; insbesondere die akademische Theologie wird in die Pflicht genommen, nicht nur Denken und Reflektieren zu lehren, sondern die Studierenden auch in die spirituelle Praxis des Glaubens einzuführen. Als weitere Defizite werden ein mangelndes trinitarisches Gottesverständnis, ein Zurücktreten von Emotionalität, Sinnlichkeit und Natur, die Vernachlässigung der Glaubensübung und der Verlust von Form, Ritual und Symbol genannt. Auch die Dimension des Heiligen Geistes werde zu wenig berücksichtigt, so dass es zum Verlust von Erfahrung, zur Vernachlässigung der Sozialität und zu Einbußen an der Pluralität spiritueller Formen komme, weil der Protestantismus »weitgehend von Individualität, Subjektivismus und Innerlichkeit geprägt ist.« (32) Darum favorisiert Zimmerling ein trinitarisches Gottesverständnis, das als Trinitätslehre allerdings den metaphysisch-philosophischen Ansatz überwindet und stattdessen geschichtlich im Sinne der Bibel ansetzt, so dass die Schöpfung, die Erlösung und die Heiligung auch als Erfahrung in den Blick kommen können. »Nur ein leidenschaftlicher Gott kann ein echtes Gegenüber des Menschen sein. Ein vom menschlichen Schicksal unberührt bleibender metaphysischer Gott ist letztlich uninteressant und irrelevant.« (34) Daran anknüpfend führt Zimmerling neun Kriterien für evangelische Spiritualität auf: 1. Evangelische Spiritualität ist Spiritualität im Horizont des dreieinigen Gottes. 2. Evangelische Spiritualität ist offen für eine Vielfalt und Unterschiedlichkeit von Formen. 3. Ausgangspunkt evangelischer Spiritualität ist die Erkenntnis der voraussetzungslosen Annahme des Menschen durch Gott (sola gratia). 4. Evangelische Spiritualität wird bestimmt von den beiden Polen Wort und Glaube. 5. Evangelische Spiritualität hat einen individuell-personalen und einen ekklesiologischen Aspekt, beide Aspekte sind komplementär aufeinander zu beziehen. 6. Evangelische Spiritualität führt zur Überschreitung des Ichs. 7. Evangelische Spiritualität ermöglicht die Integration von Leiden und Schmerz in das Leben. 8. Evangelische Spiritualität ist demokratisch und alltagsverträglich. 9. Evangelische Spiritualität und Freiheit bedingen sich gegenseitig.

Die zahlreichen Beiträge, die sich an die Einführung des Herausgebers anschließen, sind anhand des Glaubensbekenntnisses gegliedert und werden der Schöpfung, Erlösung, Heiligung zugeordnet. So wird unter »Schöpfung« die evangelische Spiritualität in Bezug z. B. zur Ökologie, zur Naturwissenschaft, zur Ehe, zum Leib, zum Gefühl, zur Musik, zur Bildung etc. thematisiert. Unter »Erlösung« wird die evangelische Spiritualität in Bezug auf den Geist Jesu Christi, auf das Neue Testament, den Psalter, die rechtfertigende Gnade und Umkehr dargelegt. Unter »Heiligung« wird evangelische Spiritualität z. B. in Bezug auf die Bedeutung des Heiligen Geistes, den Gottesdienst, die Sakramente, das Amt, die Heiligung, den Alltag, die Diakonie, den ökumenischen Horizont, auf die Mystik etc. erörtert.

Auch Band 3, welcher der Praxis der evangelischen Spiritualität gewidmet ist, wird von Zimmerling eigens eingeleitet. Dieser Band soll einen Überblick über die Formen geben, in denen evangelische Spiritualität gelebt wird. Erneut betont Zimmerling, dass er keinen Spiritualitätsbegriff vorgibt; er weise lediglich auf sein Buch Evangelische Spiritualität. Wurzeln und Zugänge hin, das in Anlehnung an die EKD-Denkschrift Evangelische Spiritualität von 1979 Spiritualität insofern beschrieben hat, als der reformatorisch verstandene Rechtfertigungsglaube, die geistliche Übung und das verantwortliche Handeln aus dem Glauben grundlegend sind. Nachdem der Herausgeber das Ziel von Band 3 beschrieben hat, folgt ein Kapitel »Grundlegendes«. Zimmerling beschreibt die Rehabilitation der Erfahrung, ja, die Erlebnisorientierung der Gesellschaft, die mit Luthers Erfahrungsansatz abgeglichen wird. Daraus wird die notwendige Gestaltwerdung des Glaubens abgeleitet. Die Praxis zeige sich allerdings recht spröde, da »die Gestaltlosigkeit geradezu ein Markenzeichen des Protestantismus« (27) sei, sogar noch verstärkt im 20. Jh. »Die protestantische Angst vor der toten Form führte zu einer regelrechten Phobie vor der festen Form.« (27) Diese Phobie gelte es zu überwinden und einer Wiederentdeckung der Glaubensübung das Wort zu reden, auch wenn die evangelischen Kirchen die diakonischen und sozialethischen Aufgaben ins Zentrum stellten und die spirituelle Praxis nicht nur ins Hintertreffen geriet, sondern auch als überflüssig oder gesetzlich gebrandmarkt wurde. Im Weiteren setzt Zimmerling sich mit der Pluralisierung und Individualisierung der Frömmigkeitspraxis sowie mit den Kennzeichen gegenwärtiger evangelisch-volkskirchlicher Spiritualitätspraxis auseinander: Weihnachtschristentum statt Kirchenjahr, Festtagsspiritualität statt Sonntagsheiligung, Losungen statt Bibellese, Event-Orientierung zwischen Inkulturation und Konter-Kulturation, Aesthetic turn als Hochschätzung von Kunst und Kirchenmusik. Abschließend werden die Herausforderungen der Praxis evangelischer Spiritualität thematisiert. Neben den traditionellen Formen der evangelischen Spiritualität – Gottesdienst, Taufe, Beichte, Abendmahl, Bibel, Gesangbuch, Katechismus, Kasualien – sind weitere Formen zu entwickeln oder zu entdecken, so z. B. in der römisch-katholischen oder orthodoxen Spiritualität, vielleicht auch in anderen Religionen. Eine noch ungelöste Aufgabe sieht Zimmerling in der Didaktisierbarkeit von Spiritualität.

Der Band bietet zahlreiche Beiträge zur Praxis der Formen der evangelischen Spiritualität. Ausgehend von Gemeinde und Kirche wenden sie sich dem Gottesdienst zu, befassen sich mit den Grundformen Gebet und Bibellese, nehmen gelebte Spiritualität in der Seelsorge wahr und legen abschließend spirituelle Formen der heutigen Lebenswelt dar. Dabei kommen die traditionellen Felder von Familie, Schule, Beruf und Kunst ebenso vor wie auch neuere Felder, z. B. Freizeiten, Akademien, Belletristik, neue elektronische Medien.

Dieses dreibändige Werk informiert von der Geschichte über die Theologie bis zur Praxis über die Evangelische Spiritualität und bearbeitet überaus zahlreiche Aspekte dieses Themas. Wer immer eine Frage zur Spiritualität hat oder eine Information benötigt, wer grundlegende Aspekte zur Kenntnis nehmen will, kann hier fündig werden. Ob aber der Wunsch in Erfüllung geht, den der Herausgeber im Blick hat, nämlich dass sich die Spiritualität im kirchlichen Leben fortentwickeln wird, kann mit Zimmerlings eigenen Worten in Zweifel gezogen werden. Hat er doch dem gegenwärtigen Protestantismus attestiert, dass spirituelle Symbole und Rituale weithin verloren gehen, und sieht zudem im Protestantismus eine Phobie vor geprägten Formen, die es seit jeher schon gab. Dass man eine Phobie, also eine Angststörung, mit drei gewichtigen Bänden überwinden kann, ist allerdings kaum anzunehmen. Zu Recht sieht auch Zimmerling, dass eine reflektierte und gestaltete Spiritualität sich nur dann wird flächendeckend im Protestantismus durchsetzen können, wenn es dem Protestantismus gelingt, der nachfolgenden Generation alltagsverträgliche, spirituelle Praxisformen zu vermitteln. Gelingt dies nicht, hält Zimmerling die Zukunft des Protestantismus für gefährdet.

M. E. ist hier die Frage zu stellen, ob der Protestantismus, der sich grundlegend an der reformatorischen Wort-Gottes-Theologie orientiert, nicht doch eher ein formloser Glaube sein will. Er hört auf Gottes Wort und antwortet darauf mit Gebet und Lobgesang, und in diesem Dialog zwischen Gott und Mensch wird das Innerliche und damit auch das Individuelle als ausschlaggebend verstanden; alles andere wird für rein äußerlich und damit letztlich irrelevant gehalten. Als Paradebeispiel einer individualistischen Spiritualität führt Zimmerling die Losungen an: Die drei Losungstexte sind als Individualgottesdienst aufzufassen. Denn mit den ersten beiden – biblischen – Texten wird auf Gott gehört und mit dem dritten Text als Gebet wird auf das gehörte Wort Gottes geantwortet. Das entspricht vollständig Luthers Gottesdienstdefinition in der Kirchweihpredigt von 1544 (s. 35 f.). Braucht es tatsächlich noch mehr, wenn doch Gott gesprochen hat? Auch mit dieser Glaubensaussage lässt sich eine Phobie gegen feste Formen nicht überwinden. Denn eine Phobie kann der Betroffene weder sich noch anderen plausibel erklären (warum hat er Angst vor Formen?), er kann sie nicht beeinflussen oder überwinden (dazu müsste er die Formen ausprobieren). Die Angststörung führt auch zu erheblichen Beeinträchtigungen des Lebens und schränkt sogar den Kontakt mit anderen Menschen ein, weil der Betroffene Gemeinschaft meidet und lieber individuell lebt (Individualgottesdienst mit dem Losungsbüchlein). Nur ein Psychiater oder ein Psychotherapeut könnte hier Abhilfe schaffen. Solch eine Abhilfe sehe ich aber derzeit für die evangelische Kirche nicht. Woher sollte sie kommen? Vielleicht wäre es ja ratsam, sich nicht nur mit Spiritualität zu befassen, sondern auch mit Mystagogie. Dieser Aspekt fehlt in allen drei Bänden.