Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Mai/2023

Spalte:

516-518

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Pompe, Hans-Hermann

Titel/Untertitel:

Kirchensprung. Warum Kirchenentwicklung und Mission einander brauchen.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2022. 280 S. = midiKontur, 3. Kart. EUR 24,00. ISBN 9783374070503.

Rezensent:

Uwe Hein

Das Buch macht neugierig. Hat die Kirche einen Sprung in der Schüssel? Tatsächlich wird auf das Evangelium in irdenen Gefäßen Bezug genommen. Aber letztlich geht es darum, dass die Kirche über ihren Schatten springt und Neues wagt: »Im Kern geht es bei Kirchenentwicklung und Mission um den Mut des Glaubens, Sprünge zu wagen, die Höhen und Tiefen, Gräben oder Grenzen überwinden.« (22) Um es vorwegzunehmen: Dieses Buch macht Mut, weil mit der Analyse kirchlicher und gesellschaftlicher Entwicklungen zugleich die Chancen in den Blick geraten, die sich darin auftun.

Nach 17 Jahren im Gemeindepfarramt leitete Hans-Hermann Pompe ab 2000 das Volksmissionarische Amt im Rheinland und von 2009 an das EKD-Zentrum für Mission in der Region (ZMiR), welches 2019 in der Evangelischen Arbeitsstelle für missionarische Kirchenentwicklung und diakonische Profilbildung (midi) aufging. Er schöpft aus dem reichhaltigen Erfahrungsschatz seiner Beratertätigkeit und aus den Studien, die in den von ihm geleiteten Institutionen erstellt wurden. Dabei vertieft und erweitert er die Themen, die er bereits 2017 in »Mitten im Leben. Die Volkskirche, die Postmoderne und die Kunst der kreativen Mission« bearbeitet hat. Von einer Sichtung der kirchlichen Situation mit den gegenwärtigen Schrumpfungsprozessen und Erschöpfungserscheinungen geht er zur Beschreibung post- bzw. spätmoderner gesellschaftlicher Entwicklungen über. P. legt dar, was in diesem Zusammenhang gute Mission ausmacht und wie diese mit kulturellen und strukturellen Veränderungen regiolokaler Kirchenentwicklung einhergehen kann. Zahlreiche veranschaulichende Geschichten, ein mitunter bekenntnishaft postulierender Stil und viele Wiederholungen lassen erkennen, dass hier verschiedene Vorträge und Aufsätze zusammengefügt wurden.

Durch Mitgliederschwund, Rückgang der Finanzmittel und Personalabbau ist die Kirche in eine Schieflage geraten. Von »wohltemperierter Resignation« bis zu lähmender Erschöpfung reichen die Zustände, die desinteressiert oder allergisch machen gegenüber jeglicher Form von Innovation. Jedenfalls braucht es angesichts sich selbst erhaltender Kreisläufe Irritationen, um auf neue Pfade zu kommen. Letztlich aber befindet sich die Kirche in einer Orientierungskrise. In der Ausrichtung auf die Verheißungen Gottes sind die gegenwärtigen Entwicklungen als Zeichen der Zeit wahrzunehmen. Von daher ist der Auftrag der Kirche neu zu bestimmen, damit sie in der Kraft des Heiligen Geistes über ihren Schatten springen kann.

Zu den Zeichen der Zeit gehören die gesellschaftlichen Ausprägungen der Spätmoderne: eine enorme Vielfalt, Traditionsverlust, Ablehnung absoluter Wahrheitsansprüche, Pluralität der Werte, ein spezielles Verhältnis von Nähe und Distanz, aber auch die Hochschätzung von Authentizität und Erfahrung. Dazu kommt religiöse Indifferenz. Sie wird als Haltung der Unbestimmtheit gegenüber dem Religiösen definiert: Gott und die Kirche haben keine Bedeutung. Ein hochdifferenziertes Bild wird gezeichnet, bei dem es im Blick auf Kategorien wie säkular – religiös und kirchliche Verbundenheit – Autonomie eine Vielzahl unterschiedlicher Konstellationen gibt. P. vermeidet Negativzuschreibungen wie gleichgültig oder desinteressiert. Darin kommt seine gewinnende Sympathie gegenüber den betreffenden Menschen zum Ausdruck. Das Ausmaß und die Kraft, die diese Haltungen aber vor allem in Ostdeutschland und dort besonders in prekären Lebensverhältnissen haben, kommen damit jedoch nicht genügend zur Geltung. Religiöse und existentielle Indifferenz verbinden sich hier so miteinander, sodass auch die Frage nach Sinn und Erfüllung auf kein Interesse stößt.

Die Konsequenzen, die P. aus der Analyse zieht, sind gleichwohl wegweisend. Es geht um Resonanz und Relevanz. Dafür braucht es den konsequenten Aufbau von Beziehungen in einer Balance aus Offenheit und Einladung, Verbundenheit und Freiraum. Eine Kultur der Seelsorge mit interessierter Aufmerksamkeit ist ebenso gefragt wie die Liebe zum Kern der guten Nachricht und eine Leidenschaft, die aus der Nähe zu Jesus Christus lebt. Sonst entsteht kein »vibrierender Draht«, keine Gegenseitigkeit, die berührt und dazu einlädt, Erfahrungen zu machen. Es ist eine Bewegung vom Angebot zum Dialog. Dem entspricht die beteiligungsoffene Logik von Netzwerken: Partizipation ohne Vereinnahmung.

Relevanz entsteht vor allem durch einen gemeinwesenorientierten Kontextbezug und die Lebensdienlichkeit diakonischen und gemeindlichen Tuns. Beim Beten, Singen, Staunen und Erzählen ist Spiritualität mit Zuhören zu verbinden. Die Schönheit des Gottesdienstes in verständlicher Sprache, eine Verkündigung mit Tiefgang, die Raum für Zweifel und Scheitern lässt, gelingende Beziehungen und eine ermutigende Atmosphäre – darin wird die Kirche als relevant erfahren. Die Frage ist: Was trägt mich im Alltag?

Auf diese Weise hat die Kirche Teil an der göttlichen Liebesgeschichte (missio dei). Es heißt nicht: »Du brauchst Gott«, sondern »Gott geht Dir nach«. Mission ist daher grundsätzlich von der Bitte geprägt und geschieht in »wehrloser Herzlichkeit«, ergebnisoffen aber nicht absichtslos. Sie geschieht (wie bereits 2017 so beschrieben) in den Dimensionen Proklamation, alltäglicher Kontakt und Attraktion. Daraus ergeben sich Kriterien für die Vitalität von Mission, die Gottes Heiligkeit und Liebe widerspiegelt und den Wegcharakter des Glaubens zu würdigen versteht.

Entsprechend wird für die Kirchenentwicklung eine stärkere Auftragsorientierung eingefordert. Sogenannte weiche Faktoren wie Werte, Kultur und Motivation werden ins Bewusstsein gerufen. Angesichts der herrschenden Komplexität und Unvorhersagbarkeit der Entwicklungen gewinnen geistliche Dimensionen des Innehaltens, des Gebets und des Hörens aufeinander zunehmend an Bedeutung, auch in Gremien. War bereits kirchliche Regionalentwicklung stärker inhaltlich bestimmt als die hauptsächlich strukturbezogene Regionalisierung, so wird unter dem zusammen mit Michael Herbst entwickelten Label regiolokale Kirchenentwicklung versucht, schrumpfungsbedingte Strukturveränderungen mit Chancen für die Mission zu verbinden. Die Kirche wird hier nicht nur als Institution, Organisation und Bewegung verstanden, sondern auch als Netzwerk mit Nachbarschaftskontakten, geistlichen Zellen, Initiativen und anderen Verbindungen. Die Vielfalt und Gleichwertigkeit der Ausdrucksformen christlichen Lebens steht hierbei im Mittelpunkt und wird als Chance gesehen, gerade unter den Bedingungen der Spätmoderne Menschen zu erreichen. Dabei sollen die Stärken lokaler Gemeinschaften und die Wahrnehmung gemeinsamer Verantwortung in der Region einander ergänzen. Fusionieren und Reduzieren darf es z. B. nicht geben, ohne eine bleibende lokale Beziehungspräsenz zu entwickeln.

Insgesamt wäre an dieser Stelle hilfreich, noch mehr aufzuzeigen, wie lokale Gemeinschaften tatsächlich gestärkt werden können, um für regionale Zusammenarbeit bereit zu werden. Die Entrepreneurship Forschung (»Effectuation«) gibt hierfür wertvolle Anstöße. Zudem wird die negative Lerngeschichte in den Regionalisierungsprozessen der Vergangenheit zu wenig berücksichtigt. Für Veränderungsprozesse und die Beharrungskräfte darin sind– wie in systemischen Ansätzen des Changemanagements herausgestellt – menschliche Grundbedürfnisse stärker zu beachten. Und von narrativer Organisationsentwicklung werden mit den Methoden des »Story-Listening« und »Story-Telling« Bedingungen kultureller Transformation erhellt, die gerade für inhaltlich bestimmte, nachhaltige Veränderungen von großer Bedeutung sind.

Die Stärke der Publikation liegt darin, dass Strukturveränderungen nicht nachträglich biblisch-theologisch legitimiert werden, sondern in der Orientierung am Auftrag der Kirche als Chance für die Kommunikation des Evangeliums in den Blick geraten. Vielleicht ist das Bild vom Tanz in die Zukunft Gottes für unseren Kulturkreis nicht ganz passend, aber die Anregung P.s, etwas leichter und vor allem mutiger in die Zukunft zu gehen, hat Kraft. Sie gründet in der Wahrnehmung von Verbindungen: der offen zugewandten Verbindung zu den Menschen und der Verbindung zu dem lebendigen Gott, mit dem die Kirche dann nicht nur über ihren Schatten, sondern auch über Mauern springen kann (Ps 18,30).