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Ausgabe:

Mai/2023

Spalte:

506-508

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Weskott, Markus

Titel/Untertitel:

Gewissen und Gewissensfreiheit im neueren Protestantismus. Denkansätze von Thielicke bis Rendtorff.

Verlag:

Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2020. 340 S. = Ethik – Grundlagen und Handlungsfelder, 16. Kart. EUR 42,00. ISBN 9783170381681.

Rezensent:

Thorsten Moos

In seiner bei Hartmut Kreß in Bonn erschienenen Dissertation widmet sich Markus Weskott dem protestantischen Zentraltopos des Gewissens und seiner Explikation in der deutschsprachigen protestantischen Ethik nach 1945. Der Gedankengang nimmt seinen Ausgangspunkt bei der Diagnose, die protestantische Theologie sei in ihrem Gewissensverständnis vorwiegend binnenperspektivisch orientiert, das heißt, auf die Rechtfertigungstheologie verengt, und darin gerade nur bedingt in der Lage, »den Binnenhorizont des Glaubens in ein reflexives Verhältnis zu anderen (Gottes-), Selbst- und Weltverständnissen [zu setzen]« (313, vgl. 18; 23). Die rechtfertigungstheologische Rede von Gewissensbefreiung finde letztlich nur schwer oder gar nicht den Anschluss an ein modernes Verständnis von Gewissensfreiheit, wie W. es im Grundgesetz repräsentiert findet.

W.s wesentliches Interesse, das auch seine Diskussion der verschiedenen Entwürfe normativ leitet, liegt dabei auf der handlungsorientierenden Dimension des Gewissens sowie auf der Anschlussfähigkeit für die Freiheit des Gewissens im verfassungsrechtlichen Sinne. Die Freiheit des Gewissens nach Art. 4 Abs. 1 GG, konkretisiert im Recht der Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen nach Art. 4 Abs. 3 GG, bildet den »heuristische[n]«– präziser müsste man sagen: normativen – »Bezugspunkt« (25) der Untersuchung. Entsprechend bietet das erste Kapitel nach einer ideengeschichtlichen Skizze der Gewissensdeutungen mit den klassischen Stationen (vor allem Stoa, Philo, Briefliteratur des Neuen Testaments, Augustinus, Thomas von Aquin, Martin Luther, Aufklärung) einen Abriss über die Rechtsgeschichte der Gewissensfreiheit bis zum Grundgesetz. Beide historischen Darstellungen sind solide gearbeitet und nehmen einschlägige Sekundärliteratur auf.

Allerdings bleibt die Verortung »des« modernen Gewissensverständnisses in Art. 4 Abs. 3 GG eigentümlich leer. Sie geht mit der Behauptung einher, der Gewissensbegriff des Art. 4 habe »das Gewissens- und Gewissensfreiheitsverständnis der Gegenwart in der Bundesrepublik Deutschland nachhaltig geprägt« (25). Als Wirkmechanismen dieser Prägung werden die bis 2011 virulente Praxis der Wehrdienstverweigerung sowie die Gewissensentscheidung im Schwangerschaftskonflikt benannt. Andere Gewissensdiskurse, etwa im Kontext der NS-Aufarbeitung, der Debatte um den zivilen Ungehorsam, der Gewissensfreiheit von Abgeordneten oder des medizinischen Personals bleiben ebenso unberücksichtigt wie der Umstand, dass sich das jeweils unter Gewissen Verstandene und sozial Praktizierte in diesen verschiedenen Konstellationen stark unterscheidet.

Im Kern des Buches werden in fünf parallel strukturierten Kapiteln der Gewissensbegriff und das Verständnis von Gewissensfreiheit bei Helmut Thielicke, Wolfgang Trillhaas, Ernst Wolf, Gerhard Ebeling (mit einem Exkurs zu Traugott Koch) und Trutz Rendtorff analysiert. Dabei wird eine knappe Einführung in den ethischen Ansatz des jeweiligen Autors gegeben, bevor der Gewissensbegriff, das Verhältnis von Gewissen und Religion sowie das Verhältnis von religiöser Gewissensbefreiung und grundrechtlicher Gewissensfreiheit dargestellt werden. Die Kapitel sind durchweg aus den Originaltexten gearbeitet, wobei jeweils eine große Breite von Monographien und Aufsätzen des jeweiligen Autors berücksichtigt werden. Im Unterschied zur starken Normativität des Rahmens der Dissertation bringen diese Darstellungen die Positionen der Autoren gut und im Wesentlichen an den begrifflichen Differenzierungen der Originaltexte orientiert zur Geltung. Erst in den jeweiligen Schlussabschnitten, in denen nach »Reflexionspotentiale[n]« (120.154 u. ö.) gefragt wird, dominiert wiederum der normative Zugang W.s. Hier wird beispielsweise dem Ansatz von Wolfgang Trillhaas »Offenheit« und eine »von religiös-dogmatischen Vorannahmen bzw. Vorurteilen freie Aufnahme von soziologisch-psychologischen Beobachtungen« (154; vgl. 306) attes-tiert. Ob sich das angesichts des für Trillhaas typischen Ineinanderfließens von Phänomenologie und Theologie halten lässt, darf bezweifelt werden. Denn Trillhaas’ Gewissensphänomenologie ist – schon durch das Hintergrundmodell von Luthers Biographie und Theologie (vgl. Wolfgang Trillhaas: Ethik, 3. Aufl. 1970, 102; 106) – offenkundig theologisch tiefenimprägniert (und hat m. E. gerade darin ihren Reiz und Wert). Des Weiteren heißt es bei W., Trillhaas »wahr[e]« die »Ganzheit der Gewissenserfahrung« und »vermeid[e] eine der Erfahrungsbasis zuwiderlaufende Aufspaltung« verschiedener Gewissensdimensionen« (155). Hier steht offenkundig eine, in der Arbeit selbst aber nicht explizierte, normative Vorstellung, um was es sich bei dem »Ganzen« des Gewissens und der »Gewissenserfahrung« eigentlich handele, als Kriterium im Hintergrund.

In seinem Abschlusskapitel skizziert W. »Grundlinien für eine Fortschreibung des protestantischen Gewissensverständnisses im 21. Jahrhundert« (307). Dabei schließt er explizit an Trillhaas’ vermeintlich theologie- und vor allem apologetikfreie Phänomenologie an (307) und fordert einen »ergebnisoffenen Austausch« (306) der Theologie mit anderen Gewissensverständnissen im »Rückbezug auf die allgemein anthropologische Basis« (309). Theologie habe dabei von »subtilen [...] Theologisierungen des Gewissensphänomens und der mit ihm verbundenen Erfahrungen Abstand zu nehmen« (313) und gleichsam mit Warnhinweisen und Übersetzungen zu operieren: »Aussagen des Glaubens sind als solche kenntlich zu machen und durch ein reflexiv geöffnetes, intersubjektiv nachvollziehbares Verstehensangebot zu ergänzen« (315). Das Ziel einer interdisziplinär kommunikationsfähigen Theologie ist durchaus zu würdigen; dieses wird allerdings durch das Postulat einer von Deutungen und Interpretationen unabhängigen, absoluten »Erfahrungsbasis«, auf das sich dann verschiedene Deutungen beziehen können, nicht wirklich eingelöst. Diskurse über Gewissensdeutungen, so wertvoll sie sein mögen, werden Erfahrungen ernst nehmen müssen, aber in ihnen keinen archimedischen Punkt finden, sondern sich auf den hermeneutischen Zirkel von Gewissensdeutung und Gewissenserfahrung einlassen müssen.

Auch inhaltlich schließt W. sich im Wesentlichen Trillhaas an. Dessen Grundgedanken von der Gewissensbefreiung als Bindungswechsel dient ihm als Instrument einer Rekonstruktion von Luthers Gewissensverständnis, das Gewissensbefreiung und Handlungsorientierung im Gewissen nicht gegeneinander ausspielt. (Im Hintergrund scheint hier, wiewohl nicht expliziert, die innerreformatorische Debatte um den tertius usus legis zu stehen.) Einige allgemeinere Überlegungen zu einem Pluralismus individueller starker Handlungsorientierungen schließen das Buch ab; hier hätte man gerne mehr erfahren und etwas von der geforderten interdisziplinären Anschlussfähigkeit eines protestantischen Gewissensverständnisses tatsächlich vorgeführt bekommen.

Insgesamt bietet das Buch im Kern eine Reihe von hochgradig sorgfältigen Rekonstruktionen der Gewissensbegriffe in fünf klassischen deutschsprachigen ethischen Ansätzen im Kontext der Bonner Republik. Diese seien allen, die sich mit sozialethischen Fragen befassen, wärmstens zur Lektüre empfohlen.