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Ausgabe:

Mai/2023

Spalte:

496-498

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Beinert, Wolfgang, u. Rosemarie Egger [Hgg.]

Titel/Untertitel:

So viel Leid – und Gott? Ein Lesebuch zu existenziellen Glaubensfragen.

Verlag:

Oberpframmern: Verlag Neue Stadt 2022. 184 S. Kart. EUR 20,00. ISBN 9783734613005.

Rezensent:

Saida Mirsadri

Es geht in diesem Buch um die drängendste theologische Frage: um die Vereinbarkeit des Leidens mit dem Glauben an einen allgütigen, allliebenden und allmächtigen Gott – wie er in den monotheistischen Religionen ausgeprägt ist.

Rosemarie Eggert richtet diesbezügliche Fragen an Publizisten, Autoren und Theologen und erhält eine Vielfalt von Antworten. In diesen Gesprächen wird erwartungsgemäß immer deutlicher, dass es keine überzeugende spekulative/philosophische/theologische Antwort auf diese uralte brennende Frage gibt, vor allem dann nicht, wenn es um die sinnloseste Form des Leidens geht, nämlich das Leiden unschuldiger Kinder. All die verschiedenen Formen der Theodizee sind nicht in der Lage, das Leiden eines Kindes zu deuten, das von einem herzlosen Täter zu Tode gequält wird.

Im zweiten Teil des Buches geht Wolfgang Beinert in einem systematisch-theologischen Beitrag unter dem Titel »Ist GOTT noch von der WELT zu retten?« genau dieser Frage nach, ob und wie in einer Welt mit so viel Leid, vor allem Kinderleid, die Rede von Gott sinnvoll sein kann. Damit kehrt sich die Perspektive um: Es geht nicht mehr um den Sinn des Leides, sondern um den Sinn des Gottesglaubens. Ob man angesichts all der sinnlosen Leiden in der Welt den Glauben an einen liebenden Gott überhaupt rechtfertigen kann, steht zur Debatte. Nicht ohne Grund bezeichnete George Büchner das »Leiden« als den »Fels des Atheismus« (Dantons Tod, Frankfurt a. M. 1835, 93) (145). Beinert beginnt seine Darstellung mit der Nacherzählung der erschütternden Szene aus dem Buch »Die Brüder Karamasow« von Fjodor Dostojevskij, in der ein Kind einen grausamen Tod stirbt, auf Befehl eines rücksichtslosen und willkürlichen Machthabers – und vor den entsetzten Augen seiner elenden, machtlosen, trauernden Mutter.

Anschließend präsentiert er eine fiktive Szene, in der er Gott vor Gericht bringt: »Gott hat schlechte Karten«, heißt es darin. »Es bleibt allen, die rechtlich denken, eigentlich gar keine andere Wahl, als ihm den Prozess zu machen« (144). Beinert ist der Meinung, dieser Prozess sei schon lange, »vielleicht seit dem Beginn der Menschheit, seit es religiöses Denken gibt, im Gange […] Der Prozess läuft unter dem Namen Theodizee: Es ist der Versuch, Gott (theos) Gerechtigkeit (dike) widerfahren zu lassen. Das ist der Sinn juristischer Prozesse. Im Endeffekt entscheidet dieser Prozess über Sinnhaftigkeit oder Sinnlosigkeit unserer Erde. Menschen inklusive« (ebd.). Die Rollen sind, seiner Meinung nach, klar verteilt: Auf der Anklagebank sitzt Gott, Ankläger ist die gesamte Menschheit, die Verteidigung haben fromme Leute, die Staatsanwälte sind gelehrte Theologen der kritischen Observanz. Und genau hier liegt der Unterschied zwischen diesem Gottesprozess und der traditionellen Theodizeen, bei denen die Theologen fast immer die Rolle des Advocatus Dei für sich beansprucht haben.

Im nächsten Schritt dieses Gerichtsprozesses werden die Gutachten der Sachverständigen vorgelegt. Dabei wird klar: »Die Frage, ob angesichts des Leides, des vielgesichtigen malum, Gott noch von der Welt zu retten ist, muss aus philosophischer Warte also mit Nein beantwortet werden. Die Welt kann Gott nicht vor der Anklagebank bewahren. Das aber bedeutet dann in letzter Instanz: Der Mensch ist ein Wesen der Verzweiflung. Er vermag keinen letzten Sinn in der Welt mit all dem Leid zu finden« (165−166). Die Lage ist aber doch nicht so hoffnungslos, denn einen glaubens- basierenden Ansatz aufgreifend, fügt Beinert hinzu: »Ich halte dafür, dass es so ist: Die Welt kann Gott doch noch retten! Das ist freilich nur unter der Voraussetzung eines totalen Perspektivenwechsels möglich. Unsere bisherigen Gedankengänge waren rein philosophisch […] Wenn ich nun der Meinung bin, dass sich tatsächlich Gott und malum reimen, kann ich das nur unter dem Blickwinkel des Glaubens« (167). Und er schließt letztendlich: »So darf man sagen: Im Menschen Jesus rettet die Welt die Ehre Gottes. Insofern dieser Mensch in absoluter Einheit mit Gott existiert (›hypostatische Union‹), hebt er im Kreuz und am Kreuz die bisher offenkundige Widersprüchlichkeit von Gott und malum auf.« (175)

Die Idee, Gott vor Gericht zu stellen, erinnert an Elie Wiesels Stück »Gott vor Gericht« (1979) – mit dem französischen Originaltitel Le procès de Shamgorod tel qu'il se déroula le 25 février 1649. Die Handlung dieser Geschichte beruht auf einem persönlichen Erlebnis von Wiesel, in dem er eines Abends Zeuge einer Gerichtsverhandlung wurde, die sein Lehrer in der Baracke im Lager Ausch-witz einberief, indem er mit zwei anderen gelehrten Rabbinern beschlossen hatte, Gott anzuklagen. Schließlich verkündete der Lehrer, der Vorsitzender des Tribunals war, das Urteil: »Schuldig«! Und dann herrschte ein endlos langes Schweigen. Daraufhin aber bat der Lehrer anschließend seine Freunde um ein Gebet. Und so beteten sie zu Gott, der wenige Minuten zuvor von ihnen »schuldig« erklärt worden war. Beinert inszeniert ein ähnliches Theaterstück. So wie im Schauspiel von Elie Wiesel verkündet er mit einem Atemzug Gott »schuldig« und mit dem nächsten wendet er sich im Glauben wieder an Gott.

Beinert hat völlig recht, wenn er darauf hinweist, dass die Beschäftigung mit der Frage nach der Ätiologie des Bösen (d. h. die Frage nach dem »unde malum« /»woher das Böse«?) zu nichts führt und philosophisch-theologische Spekulationen über diese Frage nicht dazu beitragen können, Gott von der Welt zu retten. Der Ausweg führt für ihn vielmehr über den Glauben. Auf der Ebene des theoretischen Denkens bleibt das Problem des Bösen eine Her-ausforderung, die nie ganz überwunden werden kann. Das Rätsel des Bösen wird zu einer endgültigen Aporie. Aber dass es keine »Lösung« gibt, schließt nicht aus, dass es eine »Antwort« geben kann, eine Antwort, die in der Lage ist, die Aporie produktiv zu machen. So ist auch Beinerts Antwort zu verstehen. Sie beantwortet Theodizee auf der Grundlage des Kreuzes, was einer »christologischen Wende« entspricht, die im Theodizeediskurs seit Barth stattgefunden hat.

Es gibt jedoch einen wichtigen Kritikpunkt an Beinerts Antwort auf das Problem des Leidens. Es ist dieselbe Kritik, die an jeder Theodizee des Kreuzes geübt werden kann: dass die Fokussierung auf die Kreuzigung das Leiden als Kennzeichen des Glaubens erscheinen lassen kann. Als Alternative zur Theodizee des Kreuzes gibt es Denker bzw. Denkerinnen, die darauf bestehen, dass mehr als das Kreuz die ministerielle Vision (ministerial vision) des Lebens Jesu symbolische Priorität und Nachahmung verdient (vgl. Williams, Delore, »Black Women’s Surrogacy Experience and the Christian Notion of Redemption«, in After Patriarchy: Feminist Transformations of the World Religions, ed. Paula M. Cooey et al. [Maryknoll, NY: Orbis Books, 1998], 1–14). Oder die postmodernen Denker wie Ricœur, die das Leben Jesu und seine Rede über das Reich Gottes gegenüber seiner Kreuzigung bevorzugen, und das als Sinnbild für eine Art Theodizee des Protests betrachten; als der Verkünder der Hoffnung, der Gerechtigkeit und des göttlichen Appells an die Liebe als Motiv für die Antwort auf das grundlose Böse und das unnötige Leiden (vgl. Ricœur, Paul, The Symbolism of Evil, trans. Emerson Buchanan, Boston: Beacon Press, 1967).

Die berechtigten Fragen dieser Denker kann man auch an Beinert stellen: Warum sollte man sich statt auf das Leiden nicht auf die Inkarnation der göttlichen Liebe und Kreativität im menschlichen Handeln konzentrieren, wie es Jesus Christus vorgelebt hat? Warum so viel Fokussierung auf das Leiden, wenn diese Welt des Leidens eher eindringlich menschliche Verantwortungsübernahme und Handeln (gegen Leiden) benötigt? Was nützt es der Welt, wenn Gott mit ihr leidet? Könnte die Vorstellung eines »leidenden Gottes« das Leiden der Welt lindern und das Böse verringern? Mit anderen Worten: Beinerts Frage ist falsch gestellt. Anstatt zu versuchen, GOTT vor der WELT zu retten, sollte der Schwerpunkt unserer Theodizee-Bemühungen darin bestehen, den MENSCHEN vor der WELT (des Schmerzes und des Leidens) zu retten.