Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Mai/2023

Spalte:

489-491

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Rebert, Christian

Titel/Untertitel:

Lebenssinn Familie. Bedeutungsdimensionen von Geschlechter- und Generationenverhältnissen im Anschluss an F. D. E. Schleiermacher.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2020. 545 S. = Schleiermacher-Archiv, 31. Geb. EUR 139,95. ISBN 9783110674712.

Rezensent:

Matthis Christian Glatzel

Die Schleiermacher-Forschung erlebt seit den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts eine viel beschriebene Renaissance, die sich nicht zuletzt in der seit einigen Jahren sukzessiv erarbeiteten Kritischen Gesamtausgabe äußert. Die Schriften des Berliner Kirchenvaters sollen hier einem größeren akademischen Publikum zugänglich gemacht werden. Ebenfalls im De Gruyter Verlag steht hierzu parallel das Schleiermacher-Archiv, das Werke aufnimmt, vornehmlich Dissertationsschriften, die sich historisch-systematisch mit dem Denken Schleiermachers auseinandersetzen. Gerade in den letzten Jahren sind hier einige Werke entstanden. Neben weiteren Qualifikationsschriften zu Schleiermachers Verhältnis zur literarischen Frühromantik (Mirjam Sauer), seinem Individualitätsbegriff (Manke Jiang) und Sprachverständnis (Florian Priesemuth) ist hier im Jahr 2020 eine Studie zu Schleiermachers Familienbegriff entstanden.

Mit Lebenssinn Familie handelt es sich um die Dissertationsschrift des Pfarrers Christian Rebert, die dieser 2019 an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg bei Jörg Dierken eingereicht hatte. Halle kann vorsichtig als kleines Zentrum der Schleiermacher-Forschung bezeichnet werden. Einst lehrte hier Ulrich Barth, der Gründer der Schleiermacher-Gesellschaft. Dierken ist derzeit dort Inhaber eines Lehrstuhls für Systematische Theologie und führt die Tradition Barths in der Hinsicht fort, als dass er seinerseits den Vorsitz der Schleiermacher-Gesellschaft übernahm. Die akademische Herkunft des Werkes lässt somit aufmerken und hebt entsprechend die Erwartungen.

In Lebenssinn Familie versucht sich R. an einem Spagat. Einerseits ist das Werk eine klassische Schleiermacher-Auseinandersetzung, andererseits ist R. darum bemüht, die Gegenwartsdimension des Themas hervorzuheben: Die Bedeutungsdimension des Familienbegriffs soll im Anschluss an Schleiermacher für das 21. Jh. erarbeitet werden. Hierzu widmet sich R. in zwei ausführlichen Analysen dem Geschlechter- und Generationenverhältnis nach Schleiermacher. Stets ist R. hier bemüht, das Erarbeitete mit aktuellen Situationen ins Gespräch zu bringen. Dieses Interesse an nicht rein historischen Fragestellungen durchzieht die gesamte Arbeit. Ihre These: Die Familie weist im Hinblick auf Sinn- und Bedeutungsstiftung eine Analogie mit der Religion auf. Damit ist ein Kernbegriff gefallen, den R. zu Beginn seiner Abhandlung anhand von Alfred Schütz, Pierre Bourdieu, Thomas Luckmann, Eduard Spranger und Niklas Luhmann zu erarbeiten versucht. Es folgt eine sehr ausführliche Auseinandersetzung mit der Gesamtphilosophie Schleiermachers und seiner gesellschaftlichen Situation. Diese Passagen fallen ausgesprochen ausführlich aus und stehen teilweise in einer gewissen Distanz zur Ausgangsfragestellung. Dafür wird stellenweise die Auseinandersetzung mit nahezu kanonisch gewordener Forschungsliteratur vermisst (bspw. Peter Grove, Deutungen des Subjekts 2004; Sarah Schmidt, Die Konstruktion des Endlichen 2005).

In der eigentlichen Durchführung zum Geschlechter- und Generationenverhältnis bietet R. eine ausführliche Abhandlung von Schleiermachers Verhältnis zu Frauen und seiner Auffassung zu ihrer gesellschaftlichen Situation. In produktiver Aufnahme von Elisabeth Hartliebs Studie Geschlechterdifferenz im Denken Friedrich Schleiermachers aus dem Jahr 2006 spielt R. hierbei minutiös die Themen Liebe, Partnerschaft, Ehe etc. durch. Auf ähnliche Art und Weise verfährt R. mit dem Generationenverhältnis, das er als zweite Ebene des Phänomens Familie inszeniert. Beide Ebenen treffen sich in der Fortpflanzung, die einerseits auf das Geschlechtsverhältnis bezogen ist, gleichzeitig jedoch auch die Generationenfolge konstituiert. Ähnlich detailliert wie im Hinblick auf das Geschlechterverhältnis diskutiert R. hier sämtliche infrage kommende Topoi. Methodisch lässt sich hier ein Muster erkennen: R. führt moderne Fragen an, die er einer zeitgenössischen Lebenswirklichkeit entzieht, um schließlich Einsichten Schleiermachers heranzuziehen.

Das eigentliche Kernstück der Arbeit ist die »Familientheologische Bündelung«. Hier werden beide Bereiche zusammengeführt. Vor dem Horizont der These, die Familie sei im Hinblick auf die Sinnstiftung der Religion analog, entwirft R. hier eine Dogmatik der Familie. Während die Religion als klassischer Sinnanbieter immer weiter an Bedeutung verliere, so R., weise die Familie über alle Generationen hinweg eine hohe Bedeutung auf. Diese Einschätzung ist sehr überzeugend. Auch im Durchgang durch die einzelnen dogmatischen Topoi verweist R. auf die erstaunlich hohe Anschlussfähigkeit der Familie als Sozialform an die christlichen Symbole. Der Vergleich mit der Schriftlehre ist besonders stichhaltig. R. verweist darauf, dass in der Familie in Form von Liebesbriefen oder Erinnerungsfotos eine Analogie zu biblischen Erzählungen besteht. Beide erscheinen in Form von Gründungsdokumenten. In ähnlicher Hinsicht spielt R. diese Analogie im Hinblick auf Gotteslehre, Schöpfungslehre, Christologie, Hamartiologie, Soteriologie, Pneumatologie und Eschatologie durch.

Es bleibt jedoch zu fragen, inwieweit R. hier den Familienbegriff Schleiermachers in seiner Normativität übernimmt. Dieser ist, wie R. selbst feststellt, Teil der bürgerlichen Gesellschaftsvorstellung des frühen 19. Jh.s. In diesem Sinne meint er vor allem die Reproduktionsgemeinschaft von Mann und Frau. Homosexuelle Partnerschaften sind hier ausgenommen. Ähnlich verhält es sich auch mit den sogenannten »Patchwork«-Familien. Rebert reflektiert diese Leerstelle, rechtfertigt seinen Fokus jedoch damit, dass hier »nicht eine quantitative Marginalie zum Maß für die Mehrheit gemacht werden soll […]« (5). Als Beleg für die Dominanz der Paarfamilie führt er den Zukunftsreport Familie 2030 von Prognos an. Die angeführte Stelle stellt jedoch keineswegs die Frage nach Homosexualität oder Patchwork Konstellationen. Sie betont lediglich, dass die Familienform mit zwei Elternteilen weiterhin dominiert. »Patchwork«-Familien sind hier ausdrücklich eingeschlossen. Der Verweis auf die Dominanz der Paarbeziehung ist somit keineswegs ein Beleg dafür, dass die »Bilderbuchfamilie« dominant ist. Kinder geschiedener Eltern, die mitunter im Wechselmodell aufwachsen, können durchaus unter das Paradigma der Paarbeziehung fallen. Ihr Erlebnis von Familie als Bedeutungs- und Sinnträger dürfte jedoch von Menschen, die in nicht geschiedenen Ehen aufwachsen, deutlich divergieren. In Deutschland wurden 2021 39,9 % der Ehen geschieden, 2005 waren es sogar über 50 % (Statista 2020). Von dieser Warte aus kann weiter argumentiert werden, dass die empirische Familie seit Schleiermacher deutlich vielseitiger geworden ist.

Ungeachtet dieser Anfragen bietet R. eine methodisch versierte Studie, die nicht nur Schleiermachers Familienbegriff in Berücksichtigung einer umfassenden Anzahl an Quellen zur Darstellung bringt, sondern auch gewinnbringend die Familie als Sinnträger im 21. Jh. inszeniert. Weiterführend wäre zu fragen, ob und inwiefern sie diese Rolle auch in ihren zeitgenössisch vielfältigen Manifestationsformen erfüllt.