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Ausgabe:

Mai/2023

Spalte:

480-482

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Vind, Anna, and Herman J. Selderhuis [Eds.]

Titel/Untertitel:

›Church‹ at the Time of the Reformation. Invisible Community, Visible Parish, Confession, Building …?

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2021. 480 S. m. Abb. = Refo500 Academic Studies, 72. Geb. EUR 140,00. ISBN 9783525570999.

Rezensent:

Markus Wriedt

Die beiden aufgrund ihrer reformationsgeschichtlichen Beiträge international hoch anerkannten Herausgeber präsentieren in diesem Band die Beiträge zur sechsten jährlichen Konferenz des Forschungsnetzwerks Reformation Research Consortium aus dem Jahre 2016 in Kopenhagen und thematisieren damit einen vernachlässigten Aspekt der reformatorischen Theologie. Freilich geht der Band auch über die theologiegeschichtlich relevante Frage nach der Ekklesiologie der Reformatoren hinaus und bearbeitet Themen der kirchlichen Kunst, das Verhältnis von real existierender Kirche und geglaubtem Ideal sowie die seit der Kirchenspaltung des 16. Jh.s virulente Frage nach der Einheit der Kirche. Damit sind auch be­reits die vier Hauptabteilungen der insgesamt 25 Beiträge benannt.

Die ersten sechs Beiträge sind mit der Kapitelüberschrift »›Church‹ at the Time of the Reformation« überschrieben. Der früh verstorbene katholische Dogmatiker und Theologiehistoriker Peter Walter aus Freiburg rekonstruiert die Ekklesiologie des Fürsten der Humanisten, Erasmus von Rotterdam, der sich wie etliche seiner Zeit- und Gesinnungsgenossen nicht mit der sich abzeichnenden Kirchenspaltung des 16. Jh.s abfinden wollte. Dorothea Wendebourg, inzwischen emeritierte Kirchenhistorikerin der Berliner Humboldt-Universität, kontrastiert dieses Bild mit einem knappen Abriss der ekklesiologischen Konzeption Martin Luthers, die ihrer Meinung nach doch für alle, später so stark unterschiedenen reformatorischen Überzeugungen den Grund legte. John Balserak, Senior Lecturer der Universität von Bristol/UK, akzentuiert die reformierte Ekklesiologie am Beispiel Huldrych Zwinglis und arbeitet dabei dessen Rezeption Augustins heraus, die später auch zum Bruch mit Luther führen sollte. Charlotte Methuen von der University of Glasgow ergänzt diese Sichtweisen durch eine Skizze der reformatorischen Kirchen in England und Schottland, wobei sie sorgsam auf die Unterschiede der politischen Theologie der jeweiligen Bischöfe in England und Schottland hinweist. Eigentümlich an dieser Stelle mutet die Zuordnung des Beitrags von Florian Wöller von der Universität Kopenhagen an, der die spätmittelalterliche Ekklesiologie anhand der zwei Themen »Corpus« und »Community« erläutert. Der gelehrte Beitrag hätte durchaus den reformationshistorischen Aufsätzen vorangestellt werden können. Dies auch, weil Wöller in der Zusammenfassung pointiert darauf hinweist, dass die ekklesiologische Diskussion zwar nicht auf den reformatorischen Impuls gewartet hat, gleichwohl aber Themen bereit hielt, die in der späteren Debatte von Bedeutung werden sollten. Violet Soen aus Leuven erläutert die Problematik der aristokratischen Spaltung und deren Einfluss auf die niederländische Revolution, der auch dazu beiträgt, dass die Revolte erst nach den deutschen Einigungen auf dem Augsburger Reichstag 1555 an Fahrt aufnahm.

Der zweite Abschnitt wendet sich kunstgeschichtlichen Fragen unter der Überschrift »Church« zu. Sibylla Goegebuer aus Brügge verweist auf den engen Zusammenhang von Religion und Frömmigkeit, die sich in der Kunst eines Armenhospitals niederschlägt. Geneviève Gross untersucht die Ausbildung musikalischer Beiträge zur Frömmigkeit der verstreuten Gemeinden im französischsprachigen Teil der heutigen Schweiz (Bern-Genf-Neuchâtel) und ihre Bedeutung für die Ausbildung kirchlicher Einheit. Joanna Kazmierczak aus Wroclaw erläutert das ikonographische Motiv vom Guten Samariter in seiner Bedeutung für die mittelalterliche Kirche anhand eines Epitaphs aus Breslau. Konrad Küster, Professor aus Freiburg i. Br., untersucht die Einflüsse der Liturgie auf die Kirchenmusik anhand etlicher Kirchengesangssammlungen, ihrer Autoren und Komponisten aus Sachsen. Maria Lucia Weigel erkennt in den Bildnissen der Zürcher Reformatoren Zwingli und Bullinger von Hans Asper Aspekte reformierter Ekklesiologie.

Das dritte Kapitel ist der Verbindung von »Church and Ecclesiology« gewidmet und untersucht das Verhältnis dogmatischer Lehrbestimmung und ihrer institutionellen Umsetzung. Der Zürcher Reformationshistoriker Peter Opitz untersucht gemeinsam mit seiner Mitarbeiterin Ariane Albisser das Verhältnis der sichtbaren zur unsichtbaren Kirche in der zweiten Helvetischen Konfession. Die katholische Sichtweise legt Frank Ewerzumrode, Privatdozent aus Mainz, mit einem Vergleich der Positionen von Johannes Calvin und der vatikanischen Konstitution »Lumen Gentium« dar. Csilla Gabor, Professorin an der Babes-Bolyai Universität in Cluj, wendet sich den protestantischen Polemiken in der ungarischen Kontroverstheologie des 17. Jh.s zu. Auf das Verhältnis von Kirche und Gemeinschaft hebt die Analyse von Luthers früher Sterbetrostschrift aus dem Jahre 1519 von Gábor Ittzés, Professor aus Debrecen, ab. Die Rezeption altkirchlicher Autoritäten untersucht Jeanette Kreijkes aus Leuven anhand der Analyse von Calvins Aufnahme des Werkes von Johannes Chrysostomus in der Auslegung von Epheser 4,11. Die Augustinrezeption Luthers spielt analog dazu eine Rolle in der Untersuchung des ersten Abendmahlsstreites und der darin zwischen Luther und Zwingli strittigen Berufung auf den afrikanischen Kirchenvater, insbesondere dessen Hermeneutik. Hermann A. Speelmann, Universität Kampen, thematisiert das Verhältnis von der Versammlung der Gläubigen und kirchlicher Institution anhand der Debatte zwischen Jean Morély (1524–1594) und Antoine de Chandieu (1534–1591). Die sakramentale Ekklesiologie von Robert Bellarmin (1542–1621) ist das Thema der Studie zu den sichtbaren Zeichen der Tugend von Maciej Szumowski aus Warschau.

Die letzten sechs Beiträge sind überschrieben mit »Church and Unity«. Linda Stuckrath Gottschalk analysiert die Unterscheidung von sichtbarer und unsichtbarer Kirche im Werk des reformierten Kontroverstheologen Caspar Janszoon Coolhaes (1534/6–1615). Die Ek­klesiologie der böhmischen Brüder thematisiert Tabita Landový von der Karls Universität in Prag am Beispiel des Bischofs der Böhmischen Brüderunität Johannes Augusta (1500–1572). Jan Cervenka aus Olmütz skizziert einen Unionsversuch zwischen der katholischen Kirche und den böhmischen Utraquisten am Beispiel von verbindlichen Abreden (compacts). Pierrick Hildebrand aus Zürich untersucht Zwinglis Ekklesiologie auf Ansätze der späteren Bundestheologie. Das methodologische Verhältnis von Kirchengeschichte und Theologie ist das Thema einer Calvin Re-Lektüre durch Michelle C. Sanchez, Professorin an der Harvard University in Connecticut (USA). Ulrich A. Wien, Landau und Hermannstadt, wendet sich konfessionellen Versöhnungsbemühungen in Siebenbürgen zu.

Allen Beiträgen sind kurze Literaturübersichten beigefügt, die den Stand der rezipierten Forschung dokumentieren. Dennoch wäre ein zusammenfassendes Literaturverzeichnis aller Aufsätze zu wünschen gewesen.

Der Band repräsentiert höchst divergente Beiträge zum aktuellen Forschungsstand der konfessionellen Ekklesiologie im 16. und 17. Jh. und zahlreiche Forschungsergebnisse, die im Detail nicht in dieser Besprechung aufgeführt werden können. Er verbindet arrivierte Experten mit Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftlern aus Zentral-Europa. Dabei hat die Zusammenstellung gleichermaßen im transnationalen Zuschnitt wie auch der Interdisziplinarität ihren Reiz. Allerdings fehlt eine zusammenfassende Dokumentation der auf der Konferenz in den Diskussionen geleisteten interdisziplinären Zusammenarbeit und eine Skizze des forschungsmäßigen Gewinns der Vorträge. Die Her- ausgeber verzichten auf eine Einleitung, welche den Zuschnitt der Konferenz und deren Systematik verständlich macht. Unter den vier Rubriken sind höchst unterschiedliche und thematisch nicht immer kohärente Beiträge versammelt. Liest man das Buch in einem Stück, so fallen Anachronismen und erklärungsbedürftige Zuordnungen auf. Die Anordnung wirkt an manchen Stellen willkürlich bis zufällig. Dadurch geht der qualitativ hochwertige Beitrag so mancher Aufsätze in der Fülle von 25 Kontributionen und 478 Seiten unter. Der Sammelband reiht sich in die große Zahl von Kongressdokumentationen ein, die wegen ihrer quantitativen Wucht kaum mehr qualitativ gewertet und in die aktuelle Forschung fruchtbar eingebracht werden können. Nichtsdestotrotz gehört er in die Fachbibliotheken und sollte im Kontext der weiteren Beschäftigung mit der konfessionellen Ekklesiologie der Frühen Neuzeit rezipiert werden.