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Ausgabe:

Mai/2023

Spalte:

474-476

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Burton, Simon J. G., and Matthew C. Baines [Eds.]

Titel/Untertitel:

Reformation and Education. Confessional Dynamics and Intellectual Transformations.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2022. 292 S. m. 10 Abb. = Refo500 Academic Studies, 85. Geb. EUR 140,00. ISBN 9783525560556.

Rezensent:

Steffie Schmidt

Dass die Reformation auch eine Bildungsbewegung war und auf diesem Gebiet zu tiefgreifenden Veränderungen geführt hat, ist keine neue Einsicht. Burton und Baines bewegen sich so gesehen auf einem fest etablierten Forschungsfeld. Dass ihr Sammelband ein ausgesprochen internationales und multikonfessionelles Profil aufweist und Regionen sowie Akteure behandelt, die sonst seltener im Fokus der Forschung stehen, zeichnet ihn allerdings besonders aus.

Dieser weiten geographischen Streuung und konfessionellen Vielfalt entspricht, dass die Herausgeber das Verhältnis von Reformation und Bildung als einen dynamischen Prozess der wechselseitigen Beeinflussung und Formung ungeachtet konfessioneller, regionaler oder intellektueller Grenzen begreifen. Das breite Spektrum der dargebotenen Themen versuchen die Herausgeber dadurch einzuholen, dass sie sowohl »Reformation« als auch »Bildung« in einem denkbar weiten Sinn verstehen. So gehen sie anknüpfend an neuere Einsichten der Forschung von einer Vielzahl von Reformationen aus und betonen deren Wirkungen auch abseits theologischer und politischer Implikationen. Sie definieren Bildung im Anschluss an Impulse der neueren Buchgeschichtsforschung als ganzheitliches, weit verzweigtes Phänomen, das auf die eine oder andere Weise alle gesellschaftlichen Gruppen betraf und nicht ohne seine mittelalterliche Vorgeschichte betrachtet werden darf. Vor diesem Hintergrund setzen sich die Herausgeber zum Ziel, Bildung in ihrer Prägung durch konfessionelle Dynamiken wahrzunehmen, beginnend im späten Mittelalter bis zu den Anfängen der Aufklärung.

Dieses vielversprechende Untersuchungsprogramm wird in den einzelnen Beiträgen teilweise mehr, teilweise weniger überzeugend eingelöst; mitunter erweisen sich die hergestellten Bezüge zum übergeordneten Thema Bildung eher als nachrangig. Drei Beiträge ragten bei der Lektüre heraus, weil sie nicht nur der leitenden Fragestellung gerecht wurden, sondern in besonderer Weise zum Nachdenken anregten.

Willem Frijhoffs Beitrag »Education High and Low as an Asset of the Roman Catholic Tradition. The Late Fifteenth Century to the Seventeenth Century« lässt sich als Widerspruch zu der These lesen, in Bezug auf die Bildung sei der protestantische europäische Norden fortschrittlicher gewesen als der katholische Süden. Frijhoff liefert, wie er selbst beteuert, keine neuen Erkenntnisse, sondern Denkanstöße. Dafür nimmt er einen Perspektivwechsel vor, indem er zum einen die protestantischen Bildungsbemühungen im Kontext spätmittelalterlicher Entwicklungen betrachtet und zum anderen Beispiele für katholische Leistungen auf dem Gebiet der Bildung benennt. Aufschlussreich sind bezogen auf den niederländischen Raum vor allem die Hinweise auf die Devotio moderna und die bereits im Mittelalter einsetzenden Umformungen im Schulsystem als Faktoren, die die protestantischen wie katholischen Bildungsanstrengungen begünstigten. Frijhoff zeigt Forschungslücken auf, die etwa Institutionen höherer Bildung abseits der Universitäten – zu denken ist z. B. an akademische Gymnasien, Hohe Schulen oder Jesuitenkollegs – betreffen, aber auch die Priesterseminare, die das Konzil von Trient für jedes Bistum forderte, oder den gesamten Bereich der Unterweisung für Mädchen. Es bleibt allerdings zu fragen, was mit dem Schluss dieses kenntnisreichen Beitrags passiert ist, da dieser scheinbar mitten im Gedankengang abbricht.

Auch Charlotte Appel (»Books, Education, and the Contours of a Lutheran Reading Culture. Post-Reformation Denmark [c. 1530–1700]«) bietet nach eigener Aussage keine neuen Erkenntnisse, sondern trägt Ergebnisse ihrer umfangreichen Doktorarbeit und weiterer früherer Publikationen zusammen – ein berechtigtes Vorgehen, liegen diese Werke doch zu einem Großteil auf Dänisch vor. Ihr Beitrag verfolgt ein doppeltes Ziel: Zum einen sollen die Buchproduktion und ihre Steuerung erhellt, zum anderen die Entwicklung von schulischer Bildung sowie Lese- und Schreibfähigkeit im nachreformatorischen Dänemark aufgedeckt werden. Beide Aspekte sieht sie im Sinne einer lutherischen Lesekultur eng miteinander verbunden. Entgegen dem üblichen Fokus auf Zensurmaßnahmen bevorzugt Appel die Begriffe »Buchpolitik« bzw. »Medienpolitik«, um Strategien nicht nur zur Unterdrückung unerwünschter Druckschriften, sondern auch zur gezielten Förderung der für nützlich gehaltenen Bücher zum Vorschein zu bringen. Obwohl eine Schulpflicht erst im frühen 18. Jh. eingeführt wurde, spiegeln verschiedene kirchliche Initiativen besonders im Umfeld des Bischofs Hans Poulsen Resen seit dem frühen 17. Jh. das Bemühen um eine Verbreitung der Lesefähigkeit unter Jungen wie Mädchen wider, die primär der besseren Aneignung des Kleinen Katechismus diente. Indem Appel offenlegt, welche Personengruppen im 17. Jh. als Lehrer und Lehrerinnen basale Lesefähigkeiten vermittelten, zeigt sie, dass die vervielfältigten Unterrichtsangebote nicht nur als Resultat obrigkeitlich geförderter reformatorischer Ideen zu verstehen sind, sondern schlicht auch als Möglichkeit, sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen, wahrgenommen wurden. Abschließend macht Appel auf weitergehende und vielversprechende Forschungsperspektiven im dänischen Kontext aufmerksam.

Lucie Storchovás Beitrag »Strategies for Adapting Knowledge. Melanchthon’s Natural Philosophy in the Czech Lands, 1540 to 1590« erweist sich aus mehreren Gründen als besonders lesenswert. Die Gedankenführung ist klar, das Vorgehen methodisch reflektiert, die Quellenstudien umsichtig. Immer wieder werden Beobachtungen gewinnbringend mit den Forschungsergebnissen zu anderen Regionen verglichen. Storchová untersucht Transfer und Transformationen von Wissen durch kulturelle Austauschprozesse in der Frühen Neuzeit am Beispiel der Rezeption von Melanchthons Naturphilosophie durch Gelehrte an der Universität Prag. Ausgehend von der These, dass die Ideen Melanchthons das politische Zusammenleben lutherischer Gesellschaften im 16. Jh. nachhaltig prägten, überlegt die Autorin, wie dieses Modell den jeweiligen regionalen Gegebenheiten entsprechend adaptiert wurde. Melanchthons Naturphilosophie gelangte mithilfe eines Netzwerks böhmischer Gelehrter seit den späten 1530er Jahren von Wittenberg in die tschechischen Lande. Außergewöhnlich ist, dass diese Gelehrten häufig Absolventen der Universität Prag waren, die sich zu dieser Zeit keineswegs als lutherisch, sondern als utraquistisch verstand. Das erklärt womöglich, warum sich der in Wittenberg kennengelernte Humanismus in der Heimat als deutlich einflussreicher erwies als Melanchthons theologische Werke. Storchová zeigt durch intensive Quellenstudien auf, wie Melanchthons Naturphilosophie nicht einfach übernommen, sondern durch gezielte Modifikationen bzw. Auslassungen, z. B. den Verzicht auf konfessionell fragwürdige Aussagen, an die Erwartungen der Leserschaft angepasst wurde, und setzt die vorgenommenen Änderungen an den Wittenberger Wissensbeständen zu den konkreten institutionellen und religiösen Kontexten der Gelehrten in Beziehung.