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Ausgabe:

Mai/2023

Spalte:

472-474

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Witulski, Thomas

Titel/Untertitel:

»… da ihr ja träge geworden seid an den Ohren«. Zur textpragmatischen Situierung des Hebräerbriefes.

Verlag:

Stuttgart: W. Kohlhammer Verlag 2021. 288 S. = Beiträge zur Wissenschaft vom Alten und Neuen Testament, 230. Kart. EUR 79,00. ISBN 9783170400382.

Rezensent:

Karl-Heinrich Ostmeyer

Der Bielefelder Neutestamentler Thomas Witulski legt mit der zu besprechenden Monographie eine auf Vollständigkeit angelegte Studie zu einem zentralen Aspekt des Hebräerbriefes vor. Indem W. nach der »textpragmatischen Situierung des Hebräerbriefes« fragt, nimmt er die vermeintlichen Adressaten in den Blick und mit ihnen auch die Intention des Autors.

Der Kreis derer, die sich für den Hebräerbrief interessieren, dürfte – anders als es bei einer Untersuchung zu den Evangelien oder zu den großen Paulusbriefen zu erwarten ist – eher klein ausfallen. Die Konzentration auf eine Einzelfrage dieses nicht im Fokus der neutestamentlichen Exegese stehenden Schreibens schränkt den Kreis der potentiellen Rezipientinnen und Rezipienten weiter ein. W. scheint sich darüber hinaus dessen bewusst zu sein, dass nur wenige seine Studie von der ersten bis zur letzten Seite lesen werden – samt allen Passagen im Petitdruck und sämtlichen vielfach sehr ausführlichen Fußnoten. Für solche nur punktuell Lesenden hat es deshalb Sinn, dass W. seine relativ am Anfang der Analyse (66−126) herausgearbeiteten Ergebnisse im Verlauf seiner Monographie mehrfach leicht variiert wiederholt.

Die Untersuchung von Heb 5,11−14 bildet den Nucleus, um den herum die anderen Kapitel angeordnet sind. Hier entwickelt W. seine Hauptthese, nämlich, dass sich das Schreiben nicht an eine Gemeinde als solche und auch nicht an einen Kreis von Katechumenen (175.236) richte, die erst am Anfang ihres Glaubensweges stehen, sondern an einen Kreis von angehenden Lehrern (Heb 5,12). Den Schreiber des Hebräerbriefes identifiziert W. als besonders qualifiziertes »überregional wirkendes Schulhaupt« (117).

Als wichtiges Argument für seine Annahmen nennt W. die Komplexität und den intellektuellen Anspruch des Hebräerbriefes. Der Brief setze ein theologisches Niveau voraus, das weder von Neubekehrten noch von Normalgläubigen zu erwarten sei, welches aber sehr wohl diejenigen haben müssten, die zukünftig als Gemeindelehrer fungieren wollen. Die Ansprache als »Lehrer« sei also nicht hyperbolisch, sondern konkret gemeint. Was die Lehramtskandidaten laut W. im zu kritisierenden Sinne auszeichne, seien ihr mangelndes theologisches Verständnis und ihre Denkfaulheit (82). Wegen ihrer defizitären theologischen Leistungen und Einsichten hätten die angehenden Lehrer, so betont W. mehrfach, ihr »Klassenziel« (z. B. 97.125.209) nicht erreicht. W. setzt in Analogie zu den antiken Philosophenschulen (273) eine Art von theologischer Hochschule (ca. 100 n. Chr.; 272) und ein gestuftes Bildungssystem (271) voraus. Bei dem Schreiben an die Hebräer handele es sich um einen verschriftlichten und zugesandten Lehrvortrag (117).

Die Hauptdefizite der Lehramtskandidaten der angeschriebenen Gemeinde lägen im Bereich der Christologie und der Soteriologie. Hier sieht W. bei allen Unterschieden strukturelle Parallelen zum Galaterbrief (180.188.270) und insbesondere mit Blick auf Heb 12 die »Absicht, sich der Paulusschule anzunähern« (257; vgl. 271).

W. insistiert darauf – wiederholt in Auseinandersetzung mit K. Backhaus – dass der Adressatenkreis gerade nicht, wie in der Forschung vielfach vorausgesetzt, von Glaubensmüdigkeit oder -ermattung befallen oder von einer Glaubenskrise heimgesucht sei. Hätte der Autor die Absicht verfolgt, eine glaubensmüde Gemeinde zu ermuntern, dann wäre der Vorwurf der Harthörigkeit kontraproduktiv gewesen. Des Weiteren spreche dagegen, dass der Kritik an den intellektuellen Leistungen und der Leistungsbereitschaft der Lehramtskandidaten auf der einen Seite das Lob des Autors für ihren diakonischen Einsatz und für den vorbildlichen Dienst an den Heiligen (254) auf der anderen Seite gegenüberstehe. Ein solches Engagement passe nicht zu einer allgemeinen Ermattung.

Der Vorwurf des Abfalls vom Glauben, für den es keine zweite Buße gibt (Heb 6,6), sei als paränetisch-potentielle Warnung zu begreifen (u. a. 127−129.145.153), denn der gerechte Gott werde der zuvor genannten ethischen Verdienste der Angeschriebenen gedenken (u. a. 209.269).

Seiner oben als Nucleus der Studie bezeichneten Analyse von Heb 5,11−14 stellt W. sachgemäß eine Besprechung der Einleitungsfragen zum Hebräerbrief (12−37) und eine ausführliche Behandlung der Sekundärliteratur voran (38−65), in der W. sich kritisch mit den bisher zu seiner Fragestellung entwickelten Thesen auseinandersetzt. W. ist bestrebt, möglichst viele Einwände gegen seine Positionen vorwegzunehmen und sie so bereits im Vorfeld zu widerlegen. Das bedeutet, dass diejenigen, die seine Thesen zurückweisen oder neue Thesen entwickeln, gut daran tun, sich W.s Studie daraufhin anzuschauen, ob W. darin nicht bereits auf die Gegenargumente oder die »neuen« Vorschläge eingegangen ist.

Die zentrale inhaltliche Rolle des Abschnitts 3.1 zu Heb 5,11−14 (66−126) macht nachvollziehbar, dass W. seine Analyse der Eingangskapitel (Heb 1,1−5,10) als Abschnitt 3.2 nachstellt (126−161). Weniger gut gelöst scheint jedoch, dass W. diese Untersuchung als Unterabschnitt in sein drittes Hauptkapitel einbaut, das mit »Analyse von Hebr 5,11−6,12« überschrieben ist. Eine Alternative wäre die Behandlung von Heb 1,1−5,10 im Rahmen eines ausführlichen Exkurses gewesen.

Die wesentlich kürzeren Kapitel 4−7 behandeln Heb 6,13−20 (211−216) und Heb 10 (in Ausschnitten; 217−237) sowie Heb 12 (238− 257) und Heb 13 (258−268). Die zuvor herausgearbeitete Grundthese wird an den genannten vier Kapiteln überprüft und erweitert. W. setzt sich auch hier mit etwaigen Gegenargumenten auseinander und findet seine These in den genannten Kapiteln bestätigt.

Im mit »Ertrag« überschriebenen achten Kapitel (269−273) seiner Studie bündelt W. seine Ergebnisse des ersten Abschnitts des dritten Kapitels und die Erweiterungen der Grundthesen aus den Folgeabschnitten. Komprimiert auf einer Seite bietet W. als neuntes Kapitel (274) eine Grafik, in der er seine eigene Position innerhalb der Forschungslandschaft positioniert und visualisiert. W.s in der Übersicht formulierte Zusammenfassung lautet: »Hebr als verschriftlichter Lehrvortrag eines theologischen Schulhauptes bzw. eines theologischen Lehrers mit dem Ziel christologischer Neufundierung und Vertiefung des theologisch-theoretischen (Er)Kenntnisstandes«.

W.s Studie umfasst nach einem Verzeichnis der Literatur »in Auswahl« (275−280) noch ein Stellenregister (281−288). Dass W. auf Sach- und Namenregister verzichtet, wird verschmerzen, wer Zugriff auf die E-Book-Fassung der Monographie hat. Dass nicht nur die Fußnoten, sondern auch weite Passagen des Haupttextes in Petit geboten werden, ohne dass immer eine Hierarchie in der Bedeutung erkennbar ist, dürfte der Notwendigkeit geschuldet sein, die Studie nicht auf über 300 Seiten anwachsen zu lassen. Der Lesefreundlichkeit hätten darüber hinaus kürzere Sätze mit weniger Parenthesen gedient.

Wer Ausführlichkeit in der zur Rede stehenden Thematik unter Berücksichtigung möglichst vieler Nebenaspekte sucht, der findet in der besprochenen Studie das Gewünschte. Alle, die sich zukünftig auf wissenschaftlicher Ebene mit den Einleitungsfragen zum Hebräerbrief und konkret mit dessen Adressaten, seinem Autor und seiner Intention befassen wollen, werden sich in Zustimmung oder Ablehnung mit W.s Argumenten auseinanderzusetzen haben.