Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Mai/2023

Spalte:

467-470

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Nassauer, Gudrun Michaela

Titel/Untertitel:

Ekstase und Selbstdefinition. Zur sozialen Konstruktivität außergewöhnlicher religiöser Erfahrung bei Paulus und seinen Adressaten.

Verlag:

Freiburg i. Br.: Verlag Herder 2022. 328 S. = Herders biblische Studien, 97. Geb. EUR 70,00. ISBN 9783451388972.

Rezensent:

Christian Strecker

Die angezeigte Studie wurde von der Katholisch-Theologischen Fakultät der LMU in München als Habilitationsschrift angenommen. Für den Druck wurde sie leicht überarbeitet. Die inzwischen in Fribourg lehrende Autorin Gudrun Michaela Nassauer sucht darin das in der Forschung etablierte Paulusbild zu korrigieren. Die gängige Wahrnehmung des Apostels als »Schutzheiliger des Denkens im Christentum« (A. Schweitzer) stelle eine Verkürzung dar. Paulus habe sein apostolisches Selbstverständnis, seine Theologie und Ethik programmatisch aus ekstatischen Erlebnissen heraus begründet und auch den Gemeindeaufbau von den sozialen Wirkungen der im Kreis seiner Adressaten auftretenden ekstatischen Phänomene her beleuchtet. Paulus sei daher als Ekstatiker zu begreifen. Die Arbeit besteht aus drei Hauptteilen.

Der erste Hauptteil setzt mit einer kritischen Forschungsgeschichte ein. Darin hält N. den Forschungen zur Glossolalie und Prophetie in den Protopaulinen eine »irrationalistische Engführung« vor, die darin bestünde, dass die besagten ekstatischen Phänomene aufgrund ihrer rationalen Unkontrollierbarkeit negativ bewertet würden. Bei den durch Albert Schweitzer angestoßenen Untersuchungen zur sog. paulinischen Mystik und dem »In-Christus-Sein« diagnostiziert N. dagegen eine »objektivistische Engführung«. Hier würde die Dimension des subjektiven Erlebens ins Hintertreffen geraten. Schließlich moniert N., dass Studien zum paulinischen Selbstverständnis dem ekstatischen Erleben des Apostels entweder keine oder zu wenig Aufmerksamkeit widmeten. Auf allen drei Forschungsfeldern, also der Untersuchung des Glossolalie-, des Mystik- und des apostolischen Selbstverständnisses des Paulus, identifiziert und würdigt N. aber auch etliche »weiterführende Ansätze«. Dennoch sieht sie in der Erarbeitung einer die genannten Engführungen überwindenden Gesamtdeutung der in den Protopaulinen verhandelten ekstatischen Phänomene samt deren sozialer Relevanz ein Forschungsdesiderat, das sie mit ihrer Studie einlösen will. Dazu sichtet N. in einem weiteren Arbeitsschritt den antik-mediterranen Diskurs über ekstatische Phänomene, indem sie zunächst die begrifflichen Bestimmungen von Ekstase in Platons Dialog Phaidros bespricht und dann exemplarische Zeugnisse religiöser Ekstase in der hellenistisch-römischen Welt der Zeit vom 2. Jh. v. bis zum 2. Jh. n. Chr. erörtert. Der erste Hauptteil schließt mit einer Begriffsbestimmung und methodischen Überlegungen: N. definiert »Ekstase« als ein die Vernunft nicht suspendierendes, sondern entgrenzendes Phänomen des erweiterten menschlichen Bewusstseins, das bei den Betroffenen eine bleibende transformative Wirkung zeitige. Mit Blick auf die Methodik betont N., dass die sprachliche Verarbeitung ekstatischer Phänomene in den Protopaulinen zwar keine verlässlichen Rückschlüsse auf die historische Referenz zulasse, dass das paulinische Verständnis und die pragmatische Funktion der besagten Phänomene aber sehr wohl erhoben werden könnten. Neben direkten Thematisierungen von Ekstase seien dabei auch allgemeine Beschreibungen intensiver Gottes-, Christus- oder Geisterfahrungen zu untersuchen, die das Verhalten, Sprechen, Erkennen oder Selbstbild des Apostels bleibend verändert hätten.

Im zweiten Hauptteil erschließt und analysiert N. die ihrer Meinung nach zahlreichen »sprachlichen Reflexe« ekstatischer Phänomene samt deren pragmatischer Funktion im 1Thess, 1Kor, 2Kor, Phil, Gal und Röm. Was den 1Thess betrifft, geht N. zunächst auf die an einem Herrenwort festgemachte Beschreibung der Parusie in 4,13–18 ein. N. sieht diese in jener persönlichen Ekstase verankert, die Paulus in 2Kor 12,1–10 rückblickend schildere. Der Apostel habe diese Ekstase als Vorgriff auf die Endzeitereignisse verstanden und daraus Trost für die durch Todesfälle verunsicherten Thessalonicher abgeleitet. Die Ermahnungen in 5,19 f., den Geist nicht auszulöschen und die Prophetie hochzuachten, seien als »ekstatisch konnotierte« ekklesiale Sozialformen auf dem Weg zur Vollendung zu verstehen. Breiten Raum nimmt die Exegese der Korintherkorrespondenz ein. Zahlreiche Reflexe einer von Ekstase begleiteten Erkenntnis identifiziert N. in der Argumentation in 1Kor 1,10–3,23; 4,1–21; 7,40 und 9,1 f.24–27, in der Paulus die im Kreuzeslogos und im νοῦς Christi fundierte Umkehrung menschlicher Weisheits-, Wert- und Erkenntnismaßstäbe entfaltet, in der er sich als Verwalter der Geheimnisse Gottes und Geistträger präsentiert und seine Existenz und Autorität als Apostel auf eine Christuserfahrung zurückführt. Dass ekstatische Gaben gemeindliche Normalität waren, die Paulus gleichwertig neben nichtekstatische Gaben gestellt und im Dienst des Gemeindeaufbaus an den Maßstäben der Liebe und Vernünftigkeit ausgerichtet sehen wollte, entnimmt N. der Diskussion über die prophetische Praxis von Frauen in 1Kor 11,2–16 und der Erörterung der Geistgaben in 1Kor 12–14. Die Beschreibung der Verwandlung bei der Parusie in 1Kor 15 sieht N. erneut durch ekstatisch konnotierte Kategorien geprägt, die in Paulus’ eigener Christusvision und dem darin fundierten Offenbarungswissen gründeten. Paulus’ Hinweis auf seine »Ekstase für Gott« in 2Kor 5,13 versteht N. als Resümee seiner zuvor in 2Kor 2,14–5,10 mehrfach metaphorisch zur Sprache gebrachten Erfahrungen der Gottes- bzw. Christusnähe. In 2Kor 12,1–10 balanciere Paulus dann sein durch Gegner provoziertes Rühmen über seine ekstatische Himmelsreise durch die Offenbarung eines Herrenwortes aus, das seine Schwachheit als Vollendung der apostolischen Existenz deute. Auch hinter den diversen Thematisierungen der Christusteilhabe in Phil 1,3–2,18 und 3,1–4,9 erblickt N. ekstatische Erfahrungen. Gleiches gilt für Paulus’ biographische Rekurse in Gal 1,12.15f.; 2,2 und 2,19f. wie auch für die Beschreibungen der Taufe als »Anziehen Christi« (Gal 3,27), des geisterfüllten Abba-Schreis (Gal 4,6) und der Früchte des Geistes (Gal 5,13–26). Subtile Anklänge an Ekstase identifiziert N. schließlich auch in Röm 5,1–11; 8,12–30; 9,1; 11,25.33–36; 12,6.11.

Im dritten Hauptteil bündelt N. die Ergebnisse ihrer Studie, indem sie die Merkmale und Formen des paulinischen Sprechens über Ekstase zusammenfasst und Ekstase als Basis der Selbstdefinition des Apostels sowie als urchristliches soziales Existenzial bestimmt. In einem Epilog betont sie, das ekstatische Element der Gottes- bzw. Christusbeziehung ginge bei Paulus nicht auf Kosten der Vernünftigkeit.

N. hat eine klassische exegetische Studie zu einem wichtigen Thema vorgelegt. Zu würdigen ist der instruktive Forschungsüberblick. Darüber hinaus finden sich anregende exegetische Einsichten. Die Studie weist aber auch Schwächen auf. Die Erschließung ekstatischer Phänomene fällt oft vage aus. Nicht selten ist diesbezüglich von Anklängen, subtilen Spuren und Hintergründen die Rede. Besonders die Rückführung der paulinischen Aussagen über Offenbarungswissen, Christuserkenntnis, Christusteilhabe, Gottesnähe und Geistbesitz auf ekstatisches Erleben kommt bisweilen kaum über den Status einer Behauptung hinaus. Leider verzichtet N. darauf, die Forschungen zu »Altered States of Consciousness« exegetisch zu verwerten, obwohl sie diese in ihrem Methodenkapitel als »hilfreich« ausweist. Eine Berücksichtigung hätte genauere Differenzierungen ekstatischer Phänomene und zusätzliche Evidenzen ermöglicht. Hinzu kommen Ungenauigkeiten: So wird das Präskript in Gal 1,1–5 fälschlich als »Proömium« deklariert (244), und die Behauptung, Paulus entfalte im Gal seine »Auffassung von Gottesgerechtigkeit« (243.246), ist zumindest insofern problematisch, als der Begriff dort nicht begegnet. Im Ergebnisteil überrascht, dass N. die Gottesgerechtigkeit grundsätzlich als »Inhalt paulinischer Ekstase« respektive Ekstase als »Begegnung mit der Gottesgerechtigkeit« bestimmt (283), obwohl die konkrete Bedeutung des Begriffs und die Debatte über diesen nirgends genauer erörtert wurden. Unklar bleibt, weshalb N. angesichts ihrer Korrelierung der Taufe mit ekstatischem Erleben nicht auf Röm 6 eingeht. Fazit: N. vermag dem Thema »Ekstase in den Protopaulinen« neue Impulse zu verleihen. Dass sie damit eine generelle Neubestimmung des Apostels als Ekstatiker durchsetzen kann, bleibt aber angesichts der genannten Probleme und weiterer möglicher Einwände fraglich.