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Ausgabe:

Mai/2023

Spalte:

465-467

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Mell, Ulrich, u. Michael Tilly [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Der 1. Thessalonicherbrief und die frühe Völkermission des Paulus. Hgg. unter Mitarbeit v. T. Forderer.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2022. X, 627 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 479. Lw. EUR 164,00. ISBN 9783161606908.

Rezensent:

Wolfgang Reinbold

Der Band geht zurück auf ein Symposium, das im März 2017 zum Thema »Der frühe Paulus« veranstaltet wurde. Seine Leitfrage war: Ist die Rede von einem »frühen Paulus« sachgemäß? Gibt es Veränderungen, die es rechtfertigen, von einer »Entwicklung« des Paulus zu sprechen? Elf Referentinnen und Referenten waren gebeten worden, die Frage aus der Perspektive ihres Spezialgebiets zu erörtern.

Das Symposium führte nach Auskunft der Herausgeber »dazu, den Begriff eines ›Frühen Paulus‹ für nicht (mehr) angemessen zu halten, da seine Unschärfe zu zahlreichen Missverständnissen und Fehlinterpretationen des paulinischen Schrifttums führen kann« (V). In der Folge entschieden die Herausgeber, nicht nur die elf Vorträge zu veröffentlichen, sondern »die fruchtbare Diskussion dahingehend aufzunehmen, dass für die Drucklegung des vorliegenden Bandes das Konzept geändert und der 1. Thessalonicherbrief in die Mitte der Ausführungen gestellt wurde. Für diese thematisch modifizierte Sammelpublikation gelang es, zehn zusätzliche Beiträgerinnen und Beiträger zu gewinnen, sodass jetzt alle Vorträge und Abhandlungen unter dem Titel Der 1. Thessalonicherbrief im Kontext der frühen Völkermission des Paulus der interessierten Öffentlichkeit vorgestellt werden können« (V–VI). Zu Beginn des Bands wird darüber hinaus ein Beitrag abgedruckt, der nach Auskunft der Herausgeber während der Tagung »die Anliegen aller Diskussionsteilnehmer umfassend und präzise« gebündelt hatte (V).

Die Entscheidung der Herausgeber hat zur Folge, dass der Band, anders als das Symposium, keine Leitfrage hat. Er versammelt vielmehr Beiträge zu einer Fülle höchst unterschiedlicher Themen. Sehr grob lassen sich vier Oberthemen identifizieren: (1) Zum Leben des Paulus (Paulus und Antiochia; sein Verhältnis zu Kephas/Jakobus/Barnabas; seine Mobilität und die Straßen; seine Reisen und die Infrastruktur; sein Verhältnis zu Silas und Timotheus); (2) zum 1. Thessalonicherbrief (Datierung; die Gemeinde und ihr Umfeld; Licht/Finsternis/Prädestination in 1Thess und in Qumran; Tropen und Topoi in 1Thess und bei Philo; Gut und Böse als Maßstab der Ethik; das erzählte Ich; präsentische Eschatologie; der Paulus des 1Thess); (3) zur Frage nach dem »frühen Paulus« (Periodisierung und Kriterien; 1Thess 4,1–12 und der »frühe Paulus«; Auferstehung der Toten in 1Thess 4 und 1Kor 15; »Evangelium« in 1Thess und Phil; die Frage des Unterhalts des Apostels in 1Thess und 1/2Kor; Kontinuität und Wandel im Schriftgebrauch; Paulus und Israel in 1Thess, Gal und Röm; der »Briefeschreiber Paulus als alternder Mann« in 1Thess und Phil) sowie (4) zur Mission des Paulus (Strategie der frühen Mission).

Jeder, der einmal einen vergleichbaren Band produziert hat, ahnt die Schwierigkeit, vor der die Herausgeber und der Verlag standen: Es fällt schwer, derart disparate Beiträge sinnvoll zu ordnen, aufeinander abzustimmen und einen angemessenen und zugleich ansprechenden Titel für den Band zu finden. Entsprechend vage fallen die Kapitelüberschriften aus. Sie lauten: 1. Zugänge zum »frühen« Paulus (1–68); 2. Zu den Anfängen der frühen paulinischen Völkermission (69–227); 3. Kontexte des 1. Thessalonicherbriefes (229–267); 4. Der 1. Thessalonicherbrief als Zeugnis der frühen Völkermission des Paulus (269–405); 5. Kontinuität und Diskontinuität reflektiert am 1. Thessalonicherbrief (407–505). Wie unbefriedigend diese Gliederung ist, dürfte den Herausgebern selbst bewusst sein. Kaum zufällig finden sich die Überschriften nur im Inhaltsverzeichnis. Im Buch selbst stehen die Beiträge ohne Weiteres hintereinander. Auch der Titel verspricht mehr als der Band hält: Das Thema »Mission«, das auch in zwei der fünf Kapitelüberschriften prominent erscheint, wird tatsächlich nur in einem Beitrag ausdrücklich adressiert. Im Übrigen fragt man sich nach der Lektüre, ob im Blick auf die konstatierte »Unangemessenheit« der Rede von einem »frühen Paulus« tatsächlich von einem Konsens die Rede sein kann. Mindestens zwei der zweiundzwanzig Beiträge (Nr. 17 und 20) plädieren, teils energisch, für das Gegenteil. Eine weiterführende Reflexion dazu enthält der Sammelband nicht. Die Beiträge in Auswahl:

(1) Michael Theobald, Kohärenz und Kontingenz. Zur Frage nach einer Perio-disierung der Lebensgeschichte des Paulus und den Kriterien ihrer Beantwortung (1–13): Wer die Frage nach einem frühen (und mittleren/späten) Paulus stellt, braucht Kriterien. Der Autor identifiziert sieben Fragen, »die bei der Entscheidung helfen [können], ob Vergleiche zwischen differenten Texten tatsächlich zur Annahme von ›Wandlungen‹ des paulinischen Denkens führen oder nicht« (12).

(3) Markus Öhler, Paulus und Antiochien (45–68): Paulus hat »die theologische Eigenart und Praxis der antiochenischen Ekklesia über Jahrzehnte geprägt, bevor sich diese wieder in die Richtung einer toratreuen innerjüdischen Gemeinschaft entwickelte.« Das zwang ihn, »seine Position gegenüber seiner prägenden Heimatgemeinde zu verteidigen und zu schärfen« (68).

(5) Marlis Gielen, Kephas – Jakobus – Barnabas. Drei frühchristliche Führungspersönlichkeiten und ihr Verhältnis zu Paulus im ›Rückspiegel‹ des Galaterbriefs und des 1. Korintherbriefs (93–131): Der 1Kor zeigt, dass Paulus Barnabas, Kephas und Jakobus »auch nach dem antiochenischen Zwischenfall weiterhin hochschätzte und nicht vergessen hatte, was sie ungeachtet des theologischen Dissens über die antiochenischen Klauseln dauerhaft miteinander verband« (131).

(8) Ulrich Mell, Zur Strategie der frühen Völkermission des Paulus (155–178): Mit 1Thess erfolgt ein Strategiewechsel: Paulus wechselt von einer »Wandermission« zu einer »Zentrumsmission«, zu der erstmals auch das Schreiben von Briefen hinzugehört. 1Thess ist »keineswegs ›aus der Not‹ geboren«, sondern »Teil einer bewussten Entscheidung für eine Neuausrichtung der paulinischen Mission« (177).

(13) Matthias Konradt, »Um Gott zu gefallen« (1Thess 4,1). Paulus’ ethischer Ansatz in 1Thess 4,1–12 und die Kontroverse um den ›frühen Paulus‹ (291–310): Zeigt 1Thess 4,1–12 ein frühes Stadium der Entwicklung der paulinischen Theologie? »Es ist möglich, mehr aber nicht« (310).

(14) Friedrich Wilhelm Horn, Gut und Böse als Maßstab der Ethik (311–323): Der Zugang des Paulus ist unsystematisch und eklektisch. Was »gut« ist, wird nicht an den Geboten gemessen. »Gut steht als ein grundlegender Wert und als ein Ziel für sich« (323).

(15) Andreas Lindemann, Und was kommt danach? Die Auferstehung der Toten nach 1Thess 4,13–18 und 1Kor 15 (325–363): Paulus lässt sich in beiden Briefen »auf die jeweilige aktuelle Lage« ein (363). Ob in den Differenzen »eine ›Entwicklung‹ oder sogar ein ›Fortschritt‹ zu sehen ist oder nur eine Differenz, lässt sich nicht sagen« (362).

(17) Udo Schnelle, Der Paulus des 1. Thessalonicherbriefes (383–405): Die »Vielzahl der Besonderheiten und damit die Gesamtheit des Befundes rechtfertigen es, den 1. Thessalonicherbrief als Zeugnis frühpaulinischer Theologie […] zu klassifizieren« (404). Wesentliche Elemente der späteren Zeit, etwa die »Rechtfertigungslehre«, fehlen (403f.).

(18) Oda Wischmeyer, Eὐαγγέλιον im 1. Thessalonicherbrief und im Philipperbrief. Gibt es eine Entwicklung des Begriffs bei Paulus? (407–421): Nein, es gibt »eine große Bedeutungskonstanz während der gesamten uns überlieferten paulinischen Korrespondenz« (421).

(19) Stefan Schreiber, Die Glaubwürdigkeit des Apostels und die Frage des Unterhalts. 1Thess 2,1–12 im Vergleich mit Texten aus den Korintherbriefen (423–444): »Eine Entwicklung von einem ›frühen‹ Paulus im 1. Thessalonicherbrief zu einem ›späten‹ Paulus im 2. Korintherbrief wird dabei nicht sichtbar« (441).

(20) Markus Tiwald, Kontinuität und Wandel im Schriftgebrauch des Paulus. Schriftverwendung im 1. Thessalonicherbrief im Vergleich mit Texten aus dem Römerbrief (445–460): Der Vergleich »belegt eindeutig eine Veränderung im Schriftgebrauch des Paulus« (460).

(21) Dieter Sänger, Paulus und sein Blick auf Israel. Vom 1. Thessalonicherbrief über den Galater- zum Römerbrief (461–490): Hat sich die Sicht des Paulus auf Israel gewandelt? Ja, 1Thess 2 und Röm 9–11 liegen weit auseinander. Nein, allein »der Christglaube hat soteriologische Relevanz« (auch in Röm 11) (488).

Weitere Beiträge: (2) Eckart David Schmidt, Gibt es Neues zur Frage nach Authentizität und Datierung des 1. Thessalonicherbriefes? (15–43); (4) Babett Edelmann-Singer, Paulus, die thessalonische Gemeinde und ihr hellenistisch-römisches Umfeld. Das Konzept einer Dichotomie und seine Probleme (69–91); (6) Ulrich Fellmeth, Die Mobilität des frühen Paulus (133–144); (7) Monika Schuol, Paulus, seine Reisen und seine Briefe im Licht des römischen Transport- und Nachrichtenwesens (145–154); (9) Bernhard Mutschler, Silvanus/Silas und Timotheus als Mitarbeiter des Paulus. Eine Spurensuche in der Apostelgeschichte und im 1. Thessalonicherbrief (179–227); (10) Hermann Lichtenberger, Licht, Finsternis und Prädestination in 1Thess 5,4–11 und Qumran (229–243); (11) Gert J. Steyn, Tropen und Topoi. Rhetorische Ausgestaltungen im Corpus Philonis und im 1. Thessalonicherbrief (245–267); (12) Gudrun Guttenberger, Das erzählte Ich. Beobachtungen zur Erzählung des Aufenthalts des Paulus in Thessaloniki (269–290); (16) Christof Landmesser, Was ist präsentische Eschatologie nach dem 1. Thessalonicherbrief? Zur Ambiguität christlicher Existenz in der Theologie des Paulus (365–381); (22) Eve-Marie Becker, Der frühe Briefeschreiber Paulus alsalternder Mann. Vom 1. Thessalonicherbrief zum Philipperbrief (491–505).

Der Band eignet sich zum Einstieg in die aktuelle Diskussion um die jeweils verhandelten Themen. Er enthält ein umfassendes Literaturverzeichnis (507–560), ein Stellenregister (565–598) sowie ein Autoren- (561–563.599–606), Namen- (607–612) und Sachregister (613–627). Die Form ist vorzüglich.