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Ausgabe:

Mai/2023

Spalte:

463-465

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Meiser, Martin

Titel/Untertitel:

The Septuagint and Its Reception. Collected Essays.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2022. IX, 603 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 482. Lw. EUR 174,00. ISBN 9783161549175.

Rezensent:

Felix Albrecht

Martin Meiser, Professor für Neues Testament an der Universität des Saarlandes in Saarbrücken, ist bekannt für seine Arbeiten zur Septuaginta und deren Rezeption. Er ist Herausgeber einschlägiger Sammelbände (WUNT 219, 252, 286, 361, 405, 444; SCSt 64), Mither-ausgeber des »Vetus Testamentum Patristicum« (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht), und nicht zuletzt Mitherausgeber des der »Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte der Septuaginta« gewidmeten sechsten Bandes des »Handbuchs zur Septuaginta« (Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2022).

Der vorliegende komplett englischsprachige Band umfasst 26 gesammelte Aufsätze Meisers zur Septuaginta. Zwölf ursprünglich deutsche und ein ungarischer Aufsatz wurden eigens übersetzt. Die Beiträge sind auf vier Rubriken verteilt: 1. »The Septuagint and Its Interpretation«, 2. »Septuagint and New Testament«, 3. »Textual Criticism of Patristic Quotations of the Septuagint«, 4. »Interpretation of Old Testament Texts in Ancient Christian Literature«. Jeder Beitrag ist mit gegliederter Bibliographie versehen, ein Gesamtregister rundet den Band ab. Zwei bislang unveröffentlichte Artikel sowie eine als überarbeitet gekennzeichnete Untersuchung M.s zum atl. Schriftgebrauch im lukanischen Doppelwerk verdienen, eigens erwähnt zu werden. Mit Letzterem möchte der Rezensent beginnen.

Der Artikel »Septuagint Quotations in Acts« (187–216) erschien erstmals im Jahr 2001 auf Deutsch und liegt nun in revidierter Fassung auf Englisch vor. Die Überarbeitung berücksichtigt die 2017 erschienene Münsteraner Editio critica maior der Apostelgeschichte. M. analysiert nacheinander die alttestamentlichen Zitate der Apg und befragt diese nach ihrem Texttyp. Besonders interessant ist dies beim Dodekapropheton, da der Verfasser der Apg die sog. καίγε-Textform kannte, die im 1. u. 2. Jh. n. Chr. weit verbreitet gewesen zu sein scheint. Hauptsächlich ist sie in der Quinta des Hieronymus und in der Naḥal Ḥever-Rolle (Ra 943) erhalten. Diese spezielle Textform wird, wie an Joel 2,29 ersichtlich, in Apg 2,18 zitiert. M. folgt nicht der von Ziegler etablierten Verszählung des Joelbuches, sondern der älteren, im Einklang mit MT stehenden Zählung, die auch Rahlfs in seiner Handausgabe benutzt (S. 191–194). Entsprechend wird Joel 2,29 von M. als Joel 3,2 angeführt (192). Etwas mehr Tiefenschärfe lohnt im Blick auf diese Stelle: Die OG-Lesart zu Joel 2,29 ist sicher bezeugt, und zwar von Justin dem Märtyrer, Codices Vaticanus u. Venetus sowie Codices Sinaiticus u. Washingtonianus jeweils in ursprünglicher Lesart: καὶ ἐπὶ τοὺς δούλους καὶ ἐπὶ τὰς δούλας Iust. W* B-S*-V. Das Besondere an dieser Textstelle ist also, dass hier klar der neutestamentliche Einfluss auf die Codices Sinaiticus u. Washingtonianus ablesbar ist. Beide Zeugen sind offenkundig nach dem neutestamentlichen Text korrigiert.

Der Artikel »Jealousy, Unrighteousness and Ignorance of God? Ancient Jewish and Christian Exegetes on Questionable Texts in the Book of Genesis« (422–438) ist im vorliegenden Band erstmals abgedruckt. M. vertritt darin die These, dass die jüdische oder christliche Auslegung bestimmter Passagen des Buches Genesis vor dem Hintergrund antijüdischer oder antichristlicher Kritik zu verstehen sei (vgl. 423). Er untersucht die Auslegungstradition zu Gen 2,16 f. u. 3,22 (423–427), zu Gen 4 (427–430), zu Gen 18,21 (431) und zu Gen 22 (431–434). Präsentiert wird ein Potpourri an Einzelkommentierungen: zweifelsohne eine gelehrte Materialsammlung, bei deren Zusammenstellung die eingangs formulierte These vielleicht etwas deutlicher hätte herausgearbeitet werden können. In der Bibliographie mag man die beiden Bände des »Ancient Chris-tian Commentary on Scripture« ergänzen: A. Louth: Genesis 1–11 (OT 1), Downers Grove 2001; M. Sheridan, Genesis 12–50 (OT 2), ebd. 2002.

Bislang unpubliziert war auch M.s Artikel »Ancient Christian Exegesis of Psalms and Ancient Philology on Homer« (511–531). Auf einen nützlichen Vergleich zwischen paganer und christlicher exegetischer Terminologie (512–515) folgt ein interessanter Vergleich zwischen paganer Homerkritik und christlicher Bibelkritik (518–520). Daran schließt sich ein nach einzelnen Gesichtspunkten grob gegliederter bunter Strauß an patristischen Einzelkommentierungen zu ausgewählten Psalmenversen an. Am Ende beschreibt M. den Nutzen der Kirchenväterkommentierungen für die moderne Exegese (528): Seiner Ansicht nach bieten die Kirchenväter teils innovative Denkanstöße, etwa zur historischen Kontextualisierung bestimmter Psalmen; teils tragen sie ungewöhnliche Fragestellungen an den Bibeltext heran, und liefern so interessante Impulse: »The answers of ancient Christian authors sometimes are odd but the questions are more important.« (Ebd.) In der Bibliographie wird auf Band vier der Reihe »The Ante-Nicene Fathers« (hg. v. F. Crombie, Grand Rapids u. a. 1989) verwiesen; ergänzen möchte man auch hier die entsprechenden Bände des »Ancient Christian Commentary on Scripture«: C. A. Blaising/C. S. Hardin: Psalms 1–50 (OT 7), Downers Grove 2008; Q. F. Wesselschmidt: Psalms 51–150 (OT 8), ebd. 2007; vielleicht auch J. Manley: Grace for Grace. The Psalter and the Holy Fathers, Crestwood 1992. Zum Psalmenkommentar des Euseb von Caesarea ist inzwischen natürlich die kritische Ausgabe zu Ps 101–150 von F. X. Risch erschienen (GCS N. F. 32, Berlin u. a. 2022).

Zum Schluss mögen ein paar Anmerkungen zu dem Artikel folgen, der die »New Testament Quotations of the Septuagint in the Works of Justin Martyr« (340–361) behandelt. Justin versucht in seinem Dialog mit dem Juden Tryphon, der in der Zeit des Bar-Kochba-Aufstandes stattfindet, anhand von Beispielen zu erklären, dass die Juden den biblischen Text verfälschen würden. Justin ist somit einerseits ein Zeuge des Septuagintatextes, andererseits aber auch ein wertvoller Zeuge eines jüdisch revidierten Bibeltextes. In jedem Fall ist zu bedenken, dass er unterschiedliche Texttypen kennt und verwendet. Daneben ist die Justintradition mit dem Problem behaftet, dass nur ein einziger brauchbarer Zeuge, der Cod. Paris. gr. 450 (datiert 1363; vgl. Numéro diktyon 50024), Justins Schriften bewahrt hat (vgl. 340–344). Schon Peter Katz hat das Problem treffend beschrieben: »This text cries out for emendation« (Studia Patristica I = TU 63, Berlin 1957, 343; vgl. zudem F. Albrecht: Das Zwölfprophetenbuch und seine Rezeption im frühen Chris-tentum am Beispiel Justins des Märtyrers, in: SCSt 60, Atlanta 2013, 349–357). Katz hat auch die starken sekundären Korrekturen am Lemmatext Justins hervorgehoben (344). Die von M. beobachtete Nähe des Lemmatextes zum sog. Antiochenischen Texttyp (358) ist daher nicht verwunderlich.

Der Sammelband bietet einen schönen Zugang zu dem reichen Schaffen Martin Meisers, das ihn als vielfältig interessiert und versiert ausweist: Sein gelehrter Blick reicht von der klassischen Antike über das hellenistische Judentum, das Neue Testament und auch das rabbinische Judentum bis hin zur Spätantike. Dass seine Beiträge zur Septuaginta nun sämtlich auf Englisch vorliegen, ist sicherlich sehr zu begrüßen, denn es dürfte die Rezeption seiner Schriften im angloamerikanischen Raum maßgeblich begünstigen. Dass dieser Band in keiner Bibliothek fehlen darf, steht natürlich außer Frage.