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Ausgabe:

Mai/2023

Spalte:

461-463

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Förster, Hans, Sänger-Böhm, Kerstin, u. Matthias H. O. Schulz [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Kritische Edition der sahidischen Version des Johannesevangeliums. Text und Dokumentation.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2021. X, 348 S. = Arbeiten zur neutestamentlichen Textforschung, 56. Geb. EUR 99,95. ISBN 9783110590210.

Rezensent:

Jan Dochhorn

Es wird uns mit diesem Band die erste Editio Maior der sahidischen Übersetzung des Johannesevangeliums geboten. Sie beruht auf sämtlichen erreichbaren Handschriften, insgesamt 172, von denen fünf vollständig, fünf halbwegs vollständig und alle anderen fragmentarisch sind (123). Aus dem Titel des Bandes geht nicht hervor, dass er faktisch noch bedeutend mehr enthält: Auch die lykopolitanische (subachmimische) und die protobohairische Version des Johannesevangeliums kann man hier lesen, die beide aufgrund des hohen Alters ihrer Textzeugen nicht unwichtig sein dürften (sie entstammen alle dem 4. Jahrhundert; 124). Die lykopolitanische basiert auf zwei, die protobohairische auf einer Handschrift (124). Beide Versionen sind nicht vollständig erhalten, decken aber doch den größeren Teil des Evangeliums ab. Die bohairische Version bleibt unbearbeitet, und für die nur fragmentarischen Reste anderer Versionen wird auf eine Arbeit von Christian Askeland über das koptische und griechische Johannesevangelium aus dem Jahre 2012 verwiesen (18).

Forschungsgeschichtlich steht diese Edition nicht in einem leeren Raum: Es gibt schon eine Edition des sahidischen Johannes-evangeliums von Horner (1911), die freilich weit weniger Textzeugen verarbeitet hat und noch nicht auf vollständige Handschriften zurückgreifen konnte (4). Von Quecke (1984) wurde zudem der Text von P. Palau Rib. Inv. Nr. 183 (= sa 1; 5. Jh.) herausgebracht, mit Varianten einiger anderer Handschriften, und von Schüssler (2013) der Text von Dublin, Chester Beatty Library, Ms. B (= sa 5; 6. Jh.) (4). Für die lykopolitanische Version gibt es Ausgaben von Thompson (1924) zum Textzeugen ly1 und von Funk/Smith (1990) zum Textzeugen ly2, für die protobohairische eine Ausgabe von Kasser (1958) mit Verbesserungen (2001) sowie von Sharp (2016) (S. 16–17). Förster und seine Arbeitsgruppe haben freilich für alle im vorliegenden Band veröffentlichten Versionen selbständig kollationiert, auch für den lykopolitanischen und protobohairischen Text (17), für welchen zudem die Arbeiten der Vorgänger im Apparat berücksichtigt werden.

Der vorliegende Band besteht aus mehreren separaten Abschnitten, wobei manche das Werk eines Autors sind und manche Gemeinschaftswerke mehrerer Autoren; wohl mehr als in anderen textkritischen Projekten wird hier offengelegt, wer die Arbeit gemacht hat.

Die Einleitung (1–18) stammt von Förster. Sie dokumentiert ältere Arbeiten und erläutert den Forschungskontext; wichtig ist unter anderem, dass hier für die Textzeugen nicht die Sigel des Biblia Coptica-Projekts von Schüssler verwendet werden, sondern die SMR-Sigel, die man bei Schmitz/Mink (1986; 1989, 1991) findet sowie unter http://intf.uni-muenster.de/smr/. Was das Kürzel SMR bedeutet, muss man schon selber herausfinden: Es steht für Schmitz/Mink/Richter. Dringend zu beachten ist, was Förster zum Thema Archetyprekonstruktion schreibt: Sie ist nicht möglich – wegen des hohen Grads an Kontamination in den Textzeugen, zu der im gegebenen Falle auch der anhaltende Einfluss von griechischer Bibeltextüberlieferung gehört (10–13).

Die kritische Edition des sahidischen Textes (19–114) mitsamt einer Einführung (19–34) ist ein Gemeinschaftswerk aller drei Autoren. Aus der Einführung wird man vor allem zur Kenntnis nehmen müssen, dass bei Orthographica der Mehrheit der Handschriften gefolgt wird (22) – und ebenso bei den diakritischen Zeichen, etwa den Supralinearstrichen (23). Die Interpunktion im Haupttext ist als Lesehilfe zu sehen, nicht als Rekonstrukt (23); sie folgt tendentiell der Kollationsbasis, dem Zeugen sa 5 (23). Mit sehr viel Bedacht wird erörtert, nach welchen Grundsätzen Worttrennung vorgenommen wird (24–29); mit diesem Problem haben Koptologen weit mehr zu kämpfen als etwa Gräzisten oder Äthiopisten. Es gibt einen doppelten Apparat: einen für Orthographica und einen für Variantes maiores (23–24). Es kommen die textkritischen Zeichen von Nestle/Aland zur Anwendung (vgl. den Conspectus siglorum auf S. 34), wobei freilich zuweilen Rectangulus und der Circellus nebeneinander stehen (was nicht dem herkömmlichen Usus entspricht; der Rectangulus deckt auch Omissionen ab; wo neben Omissionen auch andere Varianten vorkommen, reicht ein Rectangulus). Ein Stemma codicum wird nicht geboten, den Ausführungen in der Einleitung zum Thema Kontamination entsprechend. Ebenso gibt es keinen Abschnitt, der methodisch erläutert, nach welchen Kriterien die recensio erfolgt, also die Scheidung zwischen Haupttext- und Apparatvarianten bzw. relegierten Varianten. Auch von examinatio und divinatio ist nicht die Rede, also von Konjekturen und Emendationen, die man aus der Bibelphilologie nicht einfach verbannen darf. Aber es gibt auf S. 31–33 eine Liste, in der knapp textkritische Entscheidungen erläutert werden, die gegen eine Mehrheit der Handschriften getroffen werden.

Es folgt, beigesteuert von Schulz, die Ausgabe der Perikope von der Ehebrecherin (Joh 7,53–8,11) (115–120). Sie ist fragmentarisch überliefert auf einem Ostrakon und fehlt ansonsten in den hier herausgegebenen Versionen.

Danach werden mehrere Anhänge geboten, die allesamt von Schulz verantwortet sind, zunächst Anhang 1, der uns generell über die Handschriften orientiert: Es werden sämtliche Handschriften in numerischer Reihenfolge aufgeführt (123–138); man erfährt etwas über die in der Sekundärliteratur vorgenommenen Datierungen, auch über den Herkunftsort, falls ermittelt, nicht jedoch das, was man gewöhnlich in einer Liste der Handschriften zu lesen bekommt: Bibliotheksort und Signatur. Man wird sich hier bei Schmitz/Mink/Richter umsehen müssen. Ein weiterer Teil dieses Anhanges schlüsselt die Handschriften nach Beschreibmaterial, Herkunft und Datierung auf (139–150). Sehr wichtig ist dann eine Aufstellung zur handschriftlichen Bezeugung jedes einzelnen Verses (151–172); man wird diese durchgängig neben dem Apparat benutzen müssen, um genauer zu erkunden, wie gut oder schlecht eine Variante bezeugt ist.

Anhang 2 ist Paratexten gewidmet, etwas, das Textkritiker heute tendentiell mehr interessiert als früher: Zuerst werden Textfragmente aus zu Stabilisierungszwecken beigebundenen Handschriftenresten dokumentiert (man findet sie in vier Handschriften; 177–178), dann Paratexte aus der Handschrift 103, dann Kolophone, dann Glossen, liturgische Vermerke und Überschriften, danach Beigaben zum Zwecke der Textgliederung (Kephalaia aus griechischer Tradition, andere Formen der Abschnittszählung aus koptischer Tradition, eusebianische Kanonzahlen, Initialen, Oboli als Abschnittsmarkierungen). Nicht zuletzt Liturgiegeschichtler und Heortologen werden hier auf ihre Kosten kommen.

Den Abschluss bilden die bereits erwähnte Edition der lykopolitanischen und der protobohairischen Version, beide verantwortet von Sänger-Böhm und Schulz. Wer wissen will, welche Handschriften Verwendung finden, muss auf S. 124 nachschauen; klassischerweise steht so etwas auf der Verso-Seite vor dem edierten Text, die in der vorliegenden Ausgabe provozierend weiß bleibt.

Eine Textausgabe wie die hier vorgelegte muss man erst einmal zustande bekommen. Nicht jedem liegt es, 175 Handschriften zu verarbeiten, wobei ja das Problem hinzukommt, dass sehr viele dieser Handschriften auf mehrere Bibliotheken verteilt sind (ein für Papyrologie und Koptologie typisches Problem). Die Herausgeber dürften sich indes der Tatsache bewusst sein, dass mit ihrer Ausgabe die philologische Erschließung speziell der sahidischen Überlieferung zum Johannesevangelium eher anfängt als abgeschlossen ist: Nicht zuletzt sind Interpretationen des griechischen Textes bei den Kopten zu erheben, die von den uns bekannten abweichen und unseren hermeneutischen Horizont erweitern könnten; unsere Wahrnehmung des Griechischen Neuen Testaments ist immer noch stark von der Vulgata geprägt, wie Förster in einer separaten Veröffentlichung hervorhebt (Translating from Greek as Source Language? The Lasting Influence of Latin on New Testament Translation, JSNT 43 [2020], 85–107). Künftiger Arbeit bleibt ferner die Dokumentation von Sekundärüberlieferung vorbehalten (also von Textaufnahmen bei koptischen Schriftstellern). Auch nehme ich an, dass man doch noch etwas mehr ermitteln kann hinsichtlich der Rezension von Varianten, so sehr diese auch in der textkritischen Arbeit zu Bibelversionen erschwert sein mag.