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Ausgabe:

Mai/2023

Spalte:

451-453

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Móricz, Nikolett

Titel/Untertitel:

Wie die Verwundeten – derer du nicht mehr gedenkst. Zur Phänomenologie des Traumas in den Psalmen 22, 88, 107 und 137.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2021. 333 S. = Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments, 282. Lw. EUR 120,00. ISBN 9783525567302.

Rezensent:

Bernd Janowski

Publikationen zu den Themen »Trauma« und »Vulnerabilität« haben zur Zeit Konjunktur. Das hat natürlich Gründe. Denn infolge nationaler wie globaler Krisen und Belastungen steigt das Bedürfnis bzw. die Notwendigkeit, diese zu bearbeiten und zu bewältigen. In dieser Lage ist es sinnvoll, hier und da einmal innezuhalten und den Blick zurückzuwenden in eine Vergangenheit, die durch Traumaerfahrungen nicht weniger belastet war als die Gegenwart, die unter Umständen aber andere Formen zu ihrer Bewältigung entwickelt hat als die Gesellschaften von heute. Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auf den Sammelband von A. Berlejung (ed.), Disaster and Relief Management/Katastrophen und ihre Bewältigung (FAT 81), Tübingen 2012. Forschungsgeschichtlich gehört das vorliegende Buch, eine im Sommersemester 2019 an der Theologischen Fakultät Heidelberg angenommene Dissertation, in den Kontext der alttestamentlichen Studien zum Thema »Trauma«, das in den vergangenen zwanzig Jahren an Bedeutung gewonnen hat (s. dazu den Bericht von Chr. M. Maier, Traumastudien und alttestamentliche Exegese, ThLZ 147, 2022, 771–784 sowie die Sammelbände J. Gärtner/B. Schmitz [Hg.], Resilienznarrative im Alten Testament, FAT 156, Tübingen 2022 und D. Erbele-Küster/N. Móricz/M. Oeming [Hg.], »Gewaltig wie das Meer ist dein Zusammenbruch« [Klgl 2,13]. Theologische, psychologische und literarische Zugänge der Traumaforschung, HUTh 89, Tübingen 2022).

Die Darstellung von Nikolett Móricz gliedert sich in sieben Kapitel, die durch drei Verzeichnisse (295–323: Abkürzungen, Literatur, Abbildungsnachweise) sowie Register (325–333: Bibelstellen, Sachen) abgeschlossen werden. Die beiden ersten Kapitel, die ein Drittel des ganzen Buchs ausmachen, sind hermeneutischen (I: 11–48) und interdisziplinären Aspekten (II: 49–100) gewidmet, wobei die Leser und Leserinnen aufgrund der mäandrierenden Argumentation allerdings leicht den Überblick verlieren können (hier wäre eine klarere Trennung forschungsgeschichtlicher und methodologischer Aspekte erforderlich gewesen). Während in der »Einleitung: Neue Hermeneutische Zugänge zu den Psalmen im Spiegel der Traumaforschung« (11 ff.) zunächst zum Thema hingeführt, die bisherige Forschung rekapituliert und der Aufbau der Arbeit erläutert wird (vgl. auch 44 f.), versucht die Vfn. anschließend, den Traumabegriff zu profilieren und dessen Relevanz für die Psalmenexegese deutlich zu machen. Das ist verdienstvoll, aber nicht immer überzeugend. Beispiele: Mit den der Freud’schen Psychoanalyse entliehenen Topoi Überschwemmung, Wiederholungszwang, Entfremdung und Verlust werden Beschreibungen für Traumata aus der Psychotraumatologie exemplarisch mit Sprachbildern der Psalmen verknüpft (28 ff.). Dabei passt z. B. Ps 22,15 (»Wie Wasser bin ich hingeschüttet«) nicht zum Topos »Überschwemmung« (31), sondern zum Topos »Auflösung (der Person)«; ebenso gehört Ps 22,7 (»Aber ich bin ein Wurm ...«) nicht zum Topos »Entfremdung« (33), sondern präziser zum Topos »Entmenschlichung« (vgl. 35 ff.284 und zur Sache B. Janowski, »Meine Haut ist schwarz geworden an mir« [Hi 30,30]. Bilder des zerbrechenden Lebens im Alten Testament, ZThK 120, 2023, 1–26). Auch die Ausführungen zur »Narrativen Identität im Horizont des Psalters – Zum Potential eines interdisziplinären hermeneutischen Ansatzes« (49 ff.) sind begrifflich überfrachtet und zum Teil sprachlich präten- tiös (die Verstrickung des Menschen in Leben und Welt bezeichnet die Vfn. als »Geschichtenhaftigkeit des Menschen«, 49). Dennoch enthält dieses Kapitel zahlreiche Anregungen zur »poetischen und narrativen Dimension der Psalmen« (55 f.), die ihr Sinnpotential zu Recht hervorheben, hier und da aber nach Präzisierung verlangen.

Diese Präzisierung wird in den Kapiteln III–VI, die der Analyse von Ps 22, 88, 107 und 137 gewidmet sind, nachgeholt. Den größten Raum nimmt dabei die Exegese von Ps 22 ein (100–175). Nach Übersetzung, (kurzer) Textkritik, Strukturanalyse (allerdings ohne Analyse der Komposition!) und Beschreibung der Textdynamik (Rederichtungen, Themen, Zeitachsen) werden die – von der Vfn. so genannten – »Mini-Erzählungen« abschnittsweise analysiert (V. ½ f./4–6 usw.). Das Ganze ist eine umsichtige Berücksichtigung und Zusammenfassung der bisherigen Forschung, setzt hier und da aber auch eigene, auf das Rahmenthema »Trauma« bezogene Akzente (besonders im Blick auf die Tiermetaphorik, s. dazu bereits P. Riede, Im Netz des Jägers. Studien zur Feindmetaphorik der Individualpsalmen WMAN 85, Neukirchen-Vluyn 2000 u. a.). Eine kurze Zusammenfassung beschließt das Kapitel (174 f.). In ähnlicher Weise werden danach auch die drei anderen Psalmen analysiert (Ps 88, 107, 137: 177 ff.217 ff.257 ff.), wobei bei der Exegese von Ps 88 eine Kompositionsanalyse gänzlich fehlt.

Leider gibt es besonders in Kapitel III–VI zahlreiche Mängel wie Druckfehler bzw. Ausdrucksfehler (126: Vertrauensäßerungen statt Vertrauensäußerungen; 127: dieses vertraute Bild hat ihre Parallele stattseine Parallele; 127: wirkt stattbewirkt; 128: liegt stattlegt u. a.; durchgängigder Scheol statt die Scheol) und regelrechte Stilblüten (129: »Sicherheitsgebung«; 131: »verwörterbare Erfahrungen« u. a.). Auch sollte man es nach Meinung des Rezensenten vermeiden, vom Beter oder von der Beterin als einem »lyrischen Ich« (130 f. u. ö., 133: »literarisches Ich«) zu sprechen. Die hebräischen Psalmen sind schließlich keine Goethegedichte (zum Begriff des Lyrischen s. nach wie vorW. Kayser, Das sprachliche Kunstwerk, Bern/München 9. Aufl. 1963).

Das abschließende Kapitel VII (281–293) resümiert die Ergebnisse und gibt einen Ausblick auf eine »›traumagerechte‹ Anthropologie der Psalmen« (281). Was die Vfn. hier präsentiert, ist nicht brandneu, es wird von ihr nur »traumatologisch« gewendet, indem den bisher erreichten Ergebnissen der neueren Psalmenforschung ein neues Begriffskleid umgehängt wird. Ob es jeweils passt, ist allerdings von Text zu Text zu prüfen.

Insgesamt hinterlässt die Arbeit einen zwiespältigen Eindruck. Lobenswert und innovativ ist auf jeden Fall das Bemühen, die interdisziplinäre Traumaforschung und die Psalmen- und Psalterexegese miteinander ins Gespräch zu bringen. Allerdings wird der Bezug der untersuchten Psalmen zum Thema »Trauma« nicht zuletzt wegen des unübersichtlichen Vorbaus der Kapitel I–II und der Unklarheit mancher Ausführungen nicht immer deutlich. Auch ist die internationale Debatte inzwischen so weit fortgeschritten (vgl. Maier, Traumastudien, 771 ff.), dass (selbst-)kritisch auf einen inflationären Gebrauch des Terminus »Trauma« zu achten ist. Vor allem aber ist die exegetische Durchführung der Arbeit mit so vielen formalen Unstimmigkeiten und inhaltlichen Ungenauigkeiten belastet, dass man gut daran tut, die untersuchten Psalmen noch einmal detaillierter in Augenschein zu nehmen und auf die Angemessenheit des verwendeten Begriffsinstrumentariums zu befragen. Hilfreich dafür sind jetzt auch die Ausführungen von D. Verde, Trauma, Poetry, and the Body. On the Psalter’s Own Words for Wounds, Biblica 101, 2020, 208–230 (von der Vfn. noch nicht berücksichtigt).