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Ausgabe:

Mai/2023

Spalte:

449-451

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Dietrich, Jan

Titel/Untertitel:

Hebräisches Denken. Denkgeschichte und Denkweisen des Alten Testaments.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2022. 237 S. m. 16 Abb. = Biblisch-Theologische Studien 191, 101. Kart. EUR 19,00. ISBN 9783525552926.

Rezensent:

Annette Schellenberg

Der angezeigte Band umfasst acht Aufsätze des Bonner Alttestamentlers Jan Dietrich, in denen er über die Art des Denkens im antiken Israel reflektiert. Mit dem Titel erinnert er an die Anfänge der alttestamentlichen Beschäftigung mit dem Thema, insbesondere an das Buch Das hebräische Denken im Vergleich mit dem Griechischen von Thorleif Boman (1952) und den Aufsatz Gibt es ein hebräisches Denken? von Klaus Koch (1968). Nach berechtigter Kritik an frühen Thesen zum hebräischen Denken geriet die Frage in der alttestamentlichen Wissenschaft für lange Zeit in Vergessenheit. In jüngster Zeit erfährt sie nun aber wieder neue Aufmerksamkeit – insbesondere auch durch die wichtigen Impulse von D.

D. eröffnet seinen Band mit dem einzig bisher unveröffentlichten Beitrag Denk- und Wissenschaftsgeschichte des Alten Testaments. Grundfragen und Konturen eines Forschungsfeldes, der zusammen mit dem sechsten Aufsatz (s. u.) eine hervorragende Einführung ins Thema bietet. Nach einem knappen Überblick über die bisherige Forschung, einer Klärung von Begriffen wie Denkstil und Denkform sowie Bemerkungen zur Art, wie im Alten Testament selbst über das Denken gesprochen wird, unterscheidet er vier Denkstile, die für verschiedene alttestamentliche Schriften typisch sind: Synthetisches Denken (poetische Texte), hörendes und mnemonisches Denken (deuteronomistische Texte), taxonomisches Denken (priesterschriftliche Texte), inspiriertes Denken (prophetische Texte). Diese Klassifizierung ist vermutlich noch nicht der Weisheit letzter Schluss – so lässt sich etwa bei »inspiriertem Denken« fragen, wie gewinnbringend es ist, hier von einem Denkstil zu sprechen, und findet sich synthetisches Denken durch das gesamte Alte Testament hindurch –, doch sie verdeutlicht die von D. zu Recht betonte Einsicht, dass es bei der Frage nach dem hebräischen Denken zwischen verschiedenen Denkstilen zu differenzieren gilt; und sie bietet ihm einen Rahmen, diese verschiedenen Denkstile mit wichtigen Einzelbeobachtungen zu konkretisieren.

Im zweiten und dritten Aufsatz geht es um den Zusammenhang von Denken und Erfahrung. In Empirismus oder Rationalismus im Alten Testament? Gedanken über Füchse und Igel im Alten Israel zeigt D. auf, dass die Erfahrung im Alten Testament hochgeschätzt wird, und dabei neben dem häufig genannten Hören auch das Sehen, dass es aber auch Texte gibt, in denen der Empirismus keine Rolle spielt (oder höchstens als Topos), wohl aber rationales Denken. In Welterfahrung. Zum erfahrungsgesättigten und denkerischen Erfassen der Welt im Alten Testament, einem Beitrag, der ursprünglich als Wibilex-Artikel erschienen ist, gibt D. nach einer Klärung des Begriffs »Welterfahrung« in Abgrenzung zu »Weltbild« und »Weltanschauung« einen ausgezeichneten Überblick über grundlegende Aspekte der altisraelitischen Welterfahrung und skizziert so die »implizite Kosmologie« (71) der antiken Israeliten. Diese wurde häufig nicht explizit reflektiert, hat aber ihre Erfahrung und damit auch ihr Denken wesentlich geprägt.

Im vierten und fünften Aufsatz konzentriert sich D. auf das Levitikusbuch und den hier fassbar werdenden taxonomischen Denkstil, der sich »durch besondere Formen der Kategorisierung, Taxonomierung und Abstraktionsleistung auszeichnet« (119). In Listenweisheit im Buch Levitikus. Überlegungen zu den Taxonomien der Priesterschrift verdeutlicht er das taxonomische Denken anhand von Beobachtungen zur »Vier-Kategorienlehre« (heilig-profan, rein-unrein) sowie den listenartigen Texten Lev 1–5, Lev 11 und Lev 13, in Materialität und Spiritualität im altisraelitischen Opferkult. Religionsgeschichtliche Abstraktionsprozesse anhand von Opfervorschriften und den im Levitikusbuch zu beobachtenden Abstraktionsprozessen.

Drei Aufsätze zum reflexiven und kritischen Denken beschließen den Band. Beachtenswert ist insbesondere der sechste Aufsatz, Hebräisches Denken und die Frage nach den Ursprüngen des Denkens zweiter Ordnung im Alten Testament, Alten Ägypten und Alten Orient. D. bietet darin einen detaillierten Überblick über die Forschungsgeschichte zum hebräischen Denken und kritisiert an der älteren Forschung vor allem die pauschale Kontrastierung von hebräischem vs. griechischem Denken. Demgegenüber benennt er mit (1.) Differenzierung und Kontextualisierung und (2.) Frage nach den Ursprüngen des Denkens zweiter Ordnung zwei »Vorzeichen« (141), unter denen sich die Wiederaufnahme der Frage nach dem hebräischen Denken lohnt. In Komplementierung zum ersten Aufsatz des Bandes (mit Fokus auf den Aspekt der Differenzierung und Kontextualisierung) folgen Ausführungen zum »Second Order Thinking« und zur Selbstreflexion im Alten Testament. In den letzten beiden Aufsätzen des Bandes (Über die Denkbarkeit des moralischen Realismus im Alten Testament. Entstehungsbedingungen und Kennzeichen einer kritischen Idee; Macht Denken traurig? Eine Auslegung von Kohelet 1,18 und 5,19) präsentiert er weitere Beispiele für kritisches Denken im Alten Testament.

D. ist sich bewusst, dass die von ihm wieder aufgegriffene Frage nach dem hebräischen Denken mit seinen Aufsätzen noch nicht abschließend beantwortet ist. Sein Band stellt aber zweifelsohne einen Meilenstein dar – nicht nur, weil er das Thema wieder ins Bewusstsein bringt, sondern darüber hinaus auch durch Thesen und Beobachtungen, die für die zukünftige Forschung richtungsweisend sein werden. Der höchst empfehlenswerte Band schließt mit einem Literaturverzeichnis, einem Stellen- und Wortregister sowie einem Nachweis über die Erstveröffentlichungen.