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Ausgabe:

Mai/2023

Spalte:

440-443

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Cioată, Maria, Miltenova, Anissava, and Emanuela Timotin

Titel/Untertitel:

Biblical Apocrypha in South-Eastern Europe and Related Areas. Proceedings of the session held at the 12th International Congress of South-East European Studies (Bucharest, 2–6 September 2019).

Verlag:

Brăila: Editura Istros a Muzeului Brăilei »Carol I« 2021. 384 S. = Bibliothèque de l’Institut d’Études Sud-Est Européennes, 16. Geb. ISBN 9786066544351.

Rezensent:

Sabine Fahl/Dieter Fahl

Der Apokryphenbegriff, der dem Sammelband zugrundeliegt, ist so weit wie möglich gefasst: Neben alt- und neutestamentlichen Apokryphen gehören Pseudepigraphen, parabiblische Literatur und sich damit überschneidende Bereiche aus Hagiographie, Liturgie, patristischer Literatur und Folklore dazu. Auch zur biblisch-kanonischen Literatur bestehen fließende Übergänge. Diese breite Definition ist im Bereich ostkirchlicher theologisch-literarischer Studien nicht ungewöhnlich und bringt den Vorteil mit sich, dass kein Bereich lebendiger Überlieferung ausgespart zu werden braucht. Auch für Bezüge zu angrenzenden Disziplinen wie Mediaevistik, Byzantinistik, Handschriftenstudien usw. bleiben die Arbeiten, die in den Band aufgenommen wurden, offen. Diese Offenheit in vielfacher Hinsicht führt nicht zur Beliebigkeit. Das Konzept, aktuelle Forschungsschwerpunkte vorzustellen und weitere Studien anzuregen, geht auf.

Den Band eröffnen ein Grand Seigneur und eine Grande Dame der Apokryphenforschung mit zwei Überblicksdarstellungen:Michael Stone (19–34) fasst die Ergebnisse jahrzehntelanger Forschungen zur Inkorporation jü-discher Apokalyptik in der armenischen Überlieferung zusammen und weist auf Forschungsstand und Desiderata hin. Zu Letzteren gehören insbesondere Untersuchungen der kosmologischen und spekulativen Dimension armenischer Apokalypsen.Anissava Miltenova (35–45) zeigt am Beispiel verschiedener Entwicklungsstufen der drei kirchenslavischen Legenden- zyklen vom Kreuzesholz bzw. vom »heiligen Baum«, wie Typos-Szenen und -Strukturen sich aus größeren, einheitlichen Textzusammenhängen lösen, um in jüngeren Texten gemischten Inhalts wie Erotapokriseis oder Parabeln aufzutauchen und dort als Stichworte für die als bekannt vorausgesetzte Legende zu fungieren.

Es folgen Untersuchungen von Forschern der jüngeren Generation. Emanuela Timotin (47–71) analysiert eine von ihr entdeckte rumänische Klage Evas während der Vertreibung aus dem Paradies. Der Text, im Anhang rumänisch und in englischer Übersetzung ediert, ist in einer Sammelhandschrift aus dem 18. Jh. enthalten. Bezüge zur Vita Adae et Evae, insbesondere in rumänischer und kirchenslavischer Überlieferung, werden sorgfältig aufgesucht. Vor allem die verschiedenen Klagesituationen des Vorelternpaares zieht die Autorin zum Vergleich heran. Übersehen wurde dabei die Klage von Adam und Eva nach dem Tode Abels, wie sie slavisch etwa in der Palaea Historica, deutlicher noch in der Paleja des Gurij Rukinec auftaucht. Da die am engsten mit dem vorgestellten Text verwandte Klage Adams nach der Vertreibung aus dem Paradies in Rumänien vor allem in mündlichen Kontexten zwischen liturgischer Literatur und Begräbnisriten eine Rolle spielte, vermutet Timotin eine ähnliche Funktion der Klage Evas.

Ljubica Jovanović (74–87) betrachtet die Rolle des Patriarchen Josef in der Ps.-Chrysostomus-Homilie »Über das Fasten und Josef und den Priester und den Propheten« (PG 62, 759–764). Der Artikel verweist auf Josef als Christus-Typus (Erlöserfunktion) in der genannten, am Montag der Karwoche gelesenen Predigt wie auch im Synaxarientext zu Josef. Zum Vergleich mit der mittelalterlichen slavischen Predigtübersetzung wird statt des zeitgenössischen der gegenwärtig gebräuchliche slavische und griechische Synaxarientext herangezogen. Kirchenslavische Zitate wurden offensichtlich nicht verstanden und anhand englischer Übersetzungen ohne Quellenangabe analysiert (84.85). Nebulöse und falsche Übersetzungen sowie sinnentstellende Fehler, selbst beim Kopieren aus D. J. Birnbaums digitaler Ausgabe des Codex Suprasliensis (85), lassen am Textverständnis der Autorin zweifeln.

Die 2022 viel zu früh verstorbene Keiko Mitani (89–108) betrachtete das kirchenslavische Testament des Hiob. Eine linguistische Analyse soll das hohe Alter der Übersetzung nachweisen. Die handschriftliche Überlieferung setzt im 14. Jh. ein. Die beigebrachten Kriterien reichen noch nicht aus, um den angenommenen frühmittelbulgarischen Ursprung (10.–12. Jh.) der TestHiob-Übersetzung zu beweisen. Auch bereitet es offensichtliche Schwierigkeiten, jüngere volkssprachliche serbische Elemente im Übersetzungstext unter dieser Prämisse zu erklären. Die Autorin geht von der Überlagerung einer älteren Überlieferungsschicht durch diese Elemente aus. Hier müssten weitere Untersuchungen ansetzen.

Ivan I. Iliev (109–124) diskutiert die Geschichte der Übersetzung des Danielbuches ins Altkirchenslavische. Statt der bisher bekannten drei Übersetzungen seien bis zum Ende des 10. Jh.s insgesamt sieben voneinander unabhängige Übersetzungen unternommen worden. Methodisch bleiben Wünsche offen: Den Beispieltexten (LXX, meist θ, mit kirchenslavischen Übersetzungen) sind die englischen Danielverse nach der King-James-Bibel vorangestellt, was zu kurio-sen Entsprechungen wie »of my head«: τῆς νυκτὸς in Dan 4,10(13) führt (116). Andere Ungereimtheiten ergeben sich aus mangelnder grammatischer Kenntnis. Die Rechnung: lexikalische Abweichung = Neuübersetzung erscheint keineswegs durchgehend überzeugend, und die Zahl von sieben altkirchenslavischen Daniel-Übersetzungen dürfte trotz der großen Bedeutung des heiligen Propheten für die christliche Eschatologie zu hoch gegriffen sein. Auch diese Publikation stimuliert unmittelbar weitere Untersuchungen.

Den Löwenanteil des Bandes umfasst der Artikel von Basil Lourié (125–217). Er stellt eine bislang nur in der Slavistik rezipierte Kompilation von Pseudo-Apostelakten vor. Diese ist Teil einer in drei Redaktionen überlieferten »Erzählung über die zwölf Apostel, über den lateinischen Glauben und über die ungesäuerten Brote«. Der in altrussischen Handschriften vom 15. Jh. an bekannte Text wurde teils im byzantinischen Raum, teils im slavischen aus erheblich älterem Material kompiliert. Lourie´ macht dahinter syrische Quellen aus dem 7. Jh. aus. Eine Reihe von Indizien weist auf die Zeit Constans’ II., obwohl mehrfach äußerst kühne Gedankenverbindungen hergestellt werden, im Detail nicht immer schlüssig. Verdienstvollerweise hebt der Autor die Bedeutung monotheletisch geprägter hagiographischer Texte, insbesondere der Vita des Pankratios von Taormina, ins Bewusstsein, die bislang von der Forschung kaum beachtet wurden, aber offenbar über längere Zeit sowohl als Primärtexte als auch in sekundärer Überlieferung stark rezipiert wurden.

Cristina-Ioana Dima (219–248) fasst ihre 2011 publizierte Dissertation über die rumänische Tradition der »Apokalypse der Jungfrau Maria« (bzw. »Gang der Gottesmutter durch die Qualen«) zusammen. Die Arbeit war in rumänischer Sprache erschienen, jetzt ebnet der französischsprachige Artikel ihren Resultaten einen breiteren Weg in die Forschungsliteratur. Mit insgesamt 92 Handschriften vom 16. bis zum 19. Jh. ist das Apokryphon auch in Rumänien eines der am weitesten verbreiteten. Die erste von drei Redaktionen folgt einer Übersetzung aus dem Kirchenslavischen, die zweite einer aus dem Griechischen. Rätsel gibt v. a. die dritte Redaktion auf; sie könnte rumänischen Ursprungs sein. Hier ist der Text in einen Rahmen eingebettet (in den meisten Handschriften ohne Schlussteil), so dass die Erzählung als Vision eines – im Übrigen unbekannten – Heiligen namens Seraphim erscheint. Als hilfreiche Anhänge sind Karten zur Herkunft der Handschriften beigefügt sowie eine Tabelle mit den verschiedenen Sünden und den ihnen in den einzelnen Redaktionen zugeordneten Höllenstrafen.

Maria Stanciu Istrate (249–259) knüpft ebenfalls an Ergebnisse einer früheren rumänischsprachigen Publikation (2004) an, indem sie Studien zur Vita Basileios’ des Jüngeren (vor 944) in rumänischer Tradition einem internationalen Publikum vorstellt, nunmehr auf Englisch. Die in nur einer Handschrift (von 1691) bekannte älteste Redaktion – in jüngeren Mehrfachübersetzungen war der Text später weit verbreitet – wurde aus dem Kirchenslavischen übersetzt, höchstwahrscheinlich in der ersten Hälfte des 17. Jh.s. Diese Handschrift liegt der Untersuchung zugrunde. Istrate konzentriert ihren Beitrag auf die Zollstationen, welche die Seele nach dem Tode durchläuft. Für diese bis heute in Folklore und Begräbnisbrauchtum greifbare umstrittene Lehre bildet die Vision des Schreibers Gregorios in der Basileios-Vita die wichtigste Quelle.

Slowenische Handschriften aus dem 18. und 19. Jh. über den Antichrist stellt Matija Ogrin vor (261–275). Der Text wurde aus dem Deutschen übersetzt, er folgt einer gedruckten Vorlage: »Leben Antichristi. Oder Außführliche, gründliche und historische Beschreibung Von den zukünfftigen Dingen der Welt […]« des Kapuziners Dionysius von Luxemburg (erste Auflage: Frankfurt 1682). Ogrin weist darauf hin, dass er diese Erstauflage nicht einsehen konnte und darauf angewiesen war, mit dem leicht revidierten Text späterer Auflagen zu arbeiten. (Mittlerweile ist ein Digitalisat der Erstauflage in der Deutsche Digitale Bibliothek zugänglich. Zugriff: 18.01.2023.) Das beliebte Werk erlebte mindestens 12 Auflagen und neben der slowenischen auch eine tschechische Übersetzung. Sein Genre changiert zwischen Weltchronik, Historienlegende, asketischer, prophetischer und apokalyptischer Literatur. Ogrin analysiert die Gründe dafür, dass die slowenische Volksliteratur bis ins 19. Jh. generell meist handschriftlich tradiert wurde. Die Überlieferung von »Leben des Antichrist« kann als paradigmatisch für eine weitab von den geistigen Eliten des Landes eigenständig gepflegte literarische geistliche Kultur gelten.

Maria Cioată beschreibt Schicksal und Bestand der Sammlung von Moses Gaster (1856–1939) in der Bibliothek der Rumänischen Akademie der Wissenschaften zu Bukarest unter besonderer Berücksichtigung von Sammelhandschriften apokryphen Inhalts (277–312). Der passionierte Sammler wollte seine Sammlung geschlossen bewahrt wissen. Dass sie dennoch auseinandergerissen wurde, ist seinem eigenen tragischen Schicksal und dem seiner Familie in der Emigration geschuldet. Immerhin gelang es ihm, einen Großteil seiner Hebraica 1925 an das British Museum und 1936 fast seine gesamte rumänische Sammlung an die Akademiebibliothek in Bukarest zu veräußern. Dort, so wurde ihm vertraglich zugesichert, sollten seine rumänischen Handschriften »in einer separaten Sammlung, welche für immer den Namen ›Sammlung Dr. Gaster‹ tragen wird, aufbewahrt werden« (285). Es kam anders. In den 50er Jahren ordnete man den gesamten Bibliotheksbestand nach systematischen Gesichtspunkten neu. Cioată hat sich der Mühe unterzogen, anhand von Gasters glücklicherweise erhaltenem eigenem Katalog den Verbleib aller Manuskripte (201 Nummern!) zu klären. Als Ergebnis ihrer Recherche hat die Akademiebibliothek in der Kopie des Gaster-Katalogs zu jeder Nummer die aktuelle Signatur gesetzt, so dass man jetzt jede Handschrift (bis auf zwei, die Cioată nicht aufspüren konnte) leicht wiederfindet. Weitere Forschungen, etwa zur Geschichte von Teilen der Sammlung, werden durch eine Gasters Katalog erweiternde Tabelle (299–312) erheblich erleichtert.

Dem Benutzer des Bandes kommen eine Gesamtbibliographie am Schluss (315–360), ein annotiertes Autorenregister (361–366), ein Bibelstellenverzeichnis (367–370) und ein thematischer Index (mit Personen-, Sach-, Werk- und Ortsangaben, 371–380) zugute. Freilich umfasst die den Herausgeberinnen separat übersandte Korrigenda-Liste 75 Fehler, und die Bindung des auf den ersten Blick stabilen Hardcover-Bandes löste sich bereits bei der Lektüre der ersten 16 Seiten. Wenn auch dergestalt bei der Herstellung Mängel zu beklagen sind, demonstriert der Band doch in seiner Substanz den Zielen der Herausgeberinnen gemäß die Vielfalt apokrypher Überlieferungen – vom Volksglauben und Brauchtum bis zu eher offiziell kirchlichen Zusammenhängen – in unterschiedlichen kulturellen Kontexten.