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Ausgabe:

Mai/2023

Spalte:

431-433

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Abdallah, Mahmoud

Titel/Untertitel:

Islamische Seelsorgelehre. Theologische Grundlegung und Perspektiven in einer pluralistischen Gesellschaft.

Verlag:

Ostfildern: Matthias Grünewald Verlag (Schwabenverlag) 2022. 426 S. = Theologie des Zusammenlebens – Christliche und muslimische Beiträge, 4. Kart. EUR 52,00. ISBN 9783786732921.

Rezensent:

Sönke Lorberg-Fehring

Dieser Grundlagenband ist ein wichtiger Beitrag zur Seelsorge und eine hilfreiche Lektüre nicht nur für muslimisch Interessierte. Das neue Feld Islamischer Seelsorge wird in seiner ganzen theologischen Breite und praktischen Herausforderung in den Blick genommen. Das Buch leistet damit einen Beitrag zur wissenschaftlichen Ausgestaltung dieses noch jungen Faches und stößt gleichzeitig eine Neuverortung des Islams und der muslimischen Gläubigen in Europa an. (363 f.)

Als eigenes Tätigkeitsfeld gibt es Islamische Seelsorge in Deutschland seit den 1990er Jahren. Durch die Migrationssituation war die vertraute Begleitung durch Familie und Nachbarschaft nicht mehr möglich. In Kooperation mit kirchlichen Akteuren und der Adaption christlicher Konzepte sind unterschiedliche Pilotprojekte einer Islamischen Seelsorge entstanden. Für die weitere Professionalisierung sind als nächste Schritte die Emanzipation von christlichen Partnern, eigene islamtheologische Begründungen und die Entwicklung neuer praktischer Ansätze notwendig. Zusätzlich zu der inzwischen umfangreichen Literatur entstehen ab Mitte der 2010er Jahre in Wien, Amsterdam, Zürich und Tübingen eigene akademische Ausbildungsformate. Mahmoud Abdallahs Buch entsteht aus seiner Mitwirkung an der europäischen Entwicklung Islamischer Seelsorge und den Erfahrungen am Zentrum für Islamische Theologie der Universität Tübingen, wo er als wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig ist. Dort entsteht 2017 der Studiengang »Islamische Praktische Theologie für Seelsorge und Soziale Arbeit«. Die damit verbundenen Herausforderungen zeigen sich daran, dass es seitdem drei unterschiedliche Curriculums-Entwürfe gab und der Studiengang ein Jahr ausgesetzt wurde (337, FN 733).

Ein besonderer Wert des Buches liegt in seinem mehrdimensionalen Ansatz: An erster Stelle steht die Frage nach Islamischer Seelsorge als wissenschaftliches Projekt, an zweiter die Herausbildung eigener Forschungsmethoden, insbesondere der Texthermeneutik von Koran und Sunna, und an dritter Stelle die Institutionalisierung durch Trägerschaft und Qualitätssicherung. Jedes Thema wird in einem eigenen Teil behandelt. Der für ein Lehrbuch relativ große Umfang ist zwar eine Herausforderung, doch durch die gute Lesbarkeit werden die Lesenden thematisch Schritt für Schritt mitgenommen.

Der Autor spannt einen weiten Bogen von der Seelsorge im Spannungsfeld zunehmender Pluralität, Individualisierung und Interreligiosität und -kulturalität über die Begriffsbestimmung und theologische Grundlegung Islamischer Seelsorgetheorie und -praxis, die Diskussion des Menschenbildes im Islam und den darin liegenden Herausforderungen für die Bestimmung des Propriums der Seelsorge bis hin zur Vorstellung und Diskussion gesellschaftlicher Rahmenbedingungen. Die umfangreiche Darstellung ist der Konstituierung dieses noch jungen Forschungszweiges sehr angemessen. Zudem ist sie zum Verständnis der Herausforderungen, die damit nicht nur für die islamische Community, sondern auch für die gesellschaftliche Stellung des Islams in Deutschland einhergehen, unbedingt notwendig.

Das Buch bietet einen guten Eindruck des ambitionierten Unterfangens, Islamische Seelsorge als neues Forschungs- und Berufsfeld in einem migrationsbedingt heterogen islamischen Umfeld zu etablieren, das durch unterschiedliche Traditionen, Rechtsschulen und Organisationsformen geprägt ist. Hinzu kommt, dass in der nicht-muslimischen Öffentlichkeit Islamthemen sehr kritisch betrachtet werden. Der Autor geht auf diese Herausforderung ein, indem er die Unumkehrbarkeit religiöser, kultureller und ethischer Pluralität im islamischen Migrationskontext herausstellt (70). Mit dem islamischen Birr (»Güte« bzw. »gottgefälliges Tun«)-Konzept bringt er einen bislang kaum beachteten Ansatz in die Diskussion ein. Er betont, dass eine darauf basierende Seelsorge auf keinen Fall binäre Welterklärungsvorstellungen zur Grundlage religiöser Hilfekontexte machen kann (124), sondern stattdessen zwischenmenschliche Beziehungsarbeit in den Vordergrund stellen muss (148). Daraus entwickelt A. nicht nur eine tragfähig islamische Grundlage für Seelsorge, sondern lädt gleichzeitig zu einer aufregend neuen interreligiösen Perspektive ein.

Die besondere Stärke des Buches liegt darin, dass der Autor den Paradigmenwechsel in der Seelsorge durch die Anerkennung muslimischer Bedürfnisse und Fähigkeiten nicht nur beschreibt, sondern aktiv mitgestaltet. Ein Beispiel ist die Herausarbeitung der »schönen« bzw. klaglosen Geduld aus der koranischen Version der Josefsgeschichte als Schlüsselbegriff für Resilienzstärkung (257). Es ist zu hoffen, dass christliche Standesorganisationen wie die »Deutsche Gesellschaft für Pastoralpsychologie« die darin liegenden Chancen erkennen und ihrerseits aktive Schritte hin zu einer religionsübergreifenden Weiterentwicklung von Seelsorge ergreifen.

Das umfangreiche Literaturverzeichnis, ein Sach- und Namenregister sowie eine Übersicht der Bibel- und Koranstellen machen das Buch zum Meilenstein auf dem Weg der Etablierung islamischer Seelsorge in Deutschland. Interessierte am interreligiösen Dialog und Seelsorgefachleute jeglicher Religion profitieren davon, dass die Diskussion hier auf ein neues Niveau gehoben wird.