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Ausgabe:

April/2023

Spalte:

394-396

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Grümme, Bernhard

Titel/Untertitel:

Praxeologie. Eine religionspädagogische Selbstaufklärung.

Verlag:

Freiburg i. Br. u. a.: Verlag Herder 2021. 496 S. Geb. EUR 55,00. ISBN 9783451390494.

Rezensent:

Jan Woppowa

Im Kontext seiner Arbeiten zum Heterogenitätsdiskurs in der Religionspädagogik führt der Bochumer Religionspädagoge Bernhard Grümme erstmals den Ansatz der Praxeologie in die Religionspädagogik ein. Im Hintergrund stehen dabei die aktuellen Diskurse um eine angemessene Theorie-Praxis-Relationierung innerhalb der Religionspädagogik bzw. Religionsdidaktik (13–16), die Notwendigkeiten und Herausforderungen durch die empirische Unterrichtsforschung (16–21) und nicht zuletzt die Frage nach der Relevanz ethnographischer Forschungszugänge, um schulischen und unterrichtlichen »Mikropraktiken« (26) auf die Spur zu kommen.

Den Ansatz der Praxeologie qualifiziert G. in programmatischer Absicht deshalb gleich zu Beginn »als weiterführendes Instrument heterogenitätsfähiger Religionspädagogik« (26). Seine Durchführung erfolgt insgesamt in drei großen Schritten: Teil A (35–81) erörtert in grundlegender Weise die Theorie-Praxis-Problematik unter breiter Bezugnahme auf zentrale Stimmen aus den Erziehungs- und Sozialwissenschaften sowie als kritische Ergänzung handlungstheoretischer Zugänge; Teil B (85–358) stellt in der Anwendung der theoretischen Grundlegungen gleichsam den Hauptteil des Buches dar und bietet nun verschiedene praxeologische Lesarten von acht ausgewählten religionspädagogischen Grundbegriffen; Teil C (361–427) bündelt die zuvor breit angelegten Entfaltungen und erzielten Einzelerkenntnisse und zieht in problemorientierter und diskursiver Weise grundlagentheoretische Umrisse einer religionspädagogischen Praxeologie. Hierin liegt zugleich das Ziel G.s im Sinne einer »religionspädagogischen Selbstaufklärung« (vgl. den markanten Untertitel des Buchs).

Der ursprünglich soziologisch geprägte Begriff der Praxeologie wird seit geraumer Zeit in den Erziehungswissenschaften rezipiert und steht im Kontext eines material turn bzw. practice turn in den Kulturwissenschaften. G. spannt im ersten Teil seines Buches den Bogen in die Religionspädagogik und nimmt im Blick auf die Praxeologie eine »kritische Einschätzung ihrer Leistungsfähigkeit« (79) für die Religionspädagogik vor. Praxeologie bestimmt G. als »interdisziplinäre Denkrichtung« (60), kurz gesagt zwischen einem schlichten Strukturalismus, der Subjekte primär in vorausliegenden und wirkmächtigen Strukturen denkt, und einer normativen Handlungstheorie, die primär von bewusst intentionalen Akten der Subjekte ausgeht. Der Akzent der Praxeologie hingegen liegt nicht auf den handlungsleitenden Intentionen der Subjekte, sondern auf der Rekonstruktion von Ordnungen, von Sinn und Differenzen in den Praktiken selbst (vgl. ergänzend B. Grümme, Art. Praxeologie, in: Wissenschaftlich-Religionspädagogisches Lexikon 2022, http://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/201051/). G. zeichnet im Rückgriff auf die sozialtheoretischen Ansätze von Pierre Bordieu, Judith Butler, Rahel Jaeggi, Norbert Ricken, Andreas Reckwitz u.a. eine pädagogische Praxeologie, der die Orientierung an einem intentional agierenden Subjekt als unverzichtbare Kategorie gilt. Diese wendet sich den habitualisierten Praktiken, verschiedenen Wissensformen, Akten intersubjektiver Performanz sowie der Interaktion zwischen Subjekten und Artefakten zu und entfaltet genau darin ihr Potenzial für Religionsdidaktik und Religionsunterricht. Dass die Praxeologie eine »vielversprechende Perspektive für die Religionspädagogik« (78) bieten kann, wird in Teil B in mehrfacher Weise nachgewiesen und an acht (nicht nur) religionspädagogisch diskursrelevanten Grundbegriffen durchbuchstabiert: Macht, Anerkennung, Bildungsgerechtigkeit, Übersetzung, Leistung, Individualisierung, Digitalisierung und Normativität. Die einzelnen Kapitel geben profunde Einblicke in erziehungswissenschaftliche, sozial- und kulturwissenschaftliche Diskurse und schlagen von dort aus Brücken in die Religionspädagogik. Dabei wird in problemorientierter Weise und mit guter Leseführung das Potenzial einer praxeologischen Lesart dieser Grundbegriffe aufgezeigt und in seiner Relevanz für religiöse Lern- und Bildungsprozesse plausibel gemacht. Die Grundbegriffe folgen einer Auswahllogik, die deren Potenzial in den Vordergrund rückt, »jeweils aus Praxiszusammenhängen heraus einen spezifischen wie interdependenten Blick auf das gesamte Feld der Religionspädagogik zu ermöglichen« (361). Auch wenn G. selbst diese Liste als »konstitutiv unabgeschlossen« (361) bezeichnet, wäre zu überlegen, ob nicht ein Begriff wie Konfession bzw. Konfessionalität zu einem solchen Grundbegriff werden müsste (zur Berücksichtigung vgl. aber auch 420 f.), prägt er religionsdidaktische Theorie und Praxis doch (noch) in ganz spezifischem Maße, nicht zuletzt durch oftmals unreflektierte hegemoniale Machtstrukturen. Die abschließende problemorientierte Diskussion, grundlagentheoretische Orientierung und Konturierung einer »Religionspädagogischen Praxeologie Aufgeklärter Heterogenität« (Teil C) sichert den Ertrag der Studie. Dabei zieht sich wie ein Cantus firmus die emphatische Rede von der kritischen Selbstreflexivität, der hier eine »integrale Bedeutung« (316) beigemessen wird, durch die verschiedenen Bezugsfelder: von der Reflexion auf die Sprecherposition religionspädagogischer Theoriebildung (363) über die – auch in anderen Werken G.s – zentrale Denkform einer »Aufgeklärten Heterogenität« (382) bis hin zu einer »Kultur der kritischen Selbstreflexivität der Religionslehrkräfte« (423). Nicht zuletzt wird in diesem Gesamtentwurf auch ein »selbstreflexiv-kritischer Begriff von Bildung« (407) angebahnt, der es wiederum erlaubt, solche religionspädagogisch mächtigen Prinzipien wie Subjektorientierung oder Kompetenzorientierung kritisch in den Blick zu nehmen.

Das Buch besticht durch seine ausgeprägte Interdisziplinarität und lässt die Religionspädagogik in vorbildhafter Weise als interdisziplinäre »Vernetzungswissenschaft« (361) in Erscheinung treten. Es leistet einen wichtigen Beitrag zum Theorie-Praxis-Problem, der zukünftig auf zahlreichen Feldern ertragreich werden kann: in der Unterrichtsforschung bzgl. machtförmiger oder differenzgenerierender Praktiken im Klassenraum, in der konzeptionellen Theoriebildung bzgl. Fragen der Normativität und Übersetzung, in der Lehrkräfteprofessionalisierung bzgl. des Aufbaus einer Theorie-Praxis-Reflexivität u. a. m. Gerade weil hier zweifellos die sprichwörtlich gewordene hegelianische ›Anstrengung des Begriffs auf sich zu nehmen‹ ist und die Leserin bzw. der Leser sich durch dichte und durchaus voraussetzungsreiche Gedankengänge arbeiten muss, um auf der Höhe des Argumentationsniveaus G.s bleiben zu können, eröffnet G.s Buch neue Horizonte im Blick auf religionspädagogische und religionsdidaktische Praxis sowie auf »Religionsunterrichtsklassen als soziale Systeme« (424) einschließlich neuer Perspektiven und Lesarten, die bislang im Fachdiskurs noch viel zu kurz kommen. Wenngleich hier ein in erster Linie elaborierter Theorieentwurf vorliegt, versäumt es G. nicht, einen in religionsdidaktischer Theoriebildung oftmals vernachlässigten Problemüberhang zu skizzieren, nämlich den Schritt von einer kritischen Dekonstruktion hinein in die kritisch-konstruktive Gestaltung von Praxis. Er konkretisiert daher das Potenzial einer religionspädagogischen Praxeologie am exemplarischen Feld der Lehrkräfteprofessionalisierung.

Dieser hier und da nur angedeutete, aber zwingend notwendige Schritt zum tatsächlichen Einsatz »auf’m Platz« (426) bleibt zentrale Herausforderung einer weiterführenden religionsdidaktischen Rezeption dieser religionspädagogischen Praxeologie, was angesichts der hier gebotenen ausgezeichneten Grundlegung sicherlich eine reizvolle Aufgabe sein dürfte.