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Ausgabe:

April/2023

Spalte:

392-394

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Forschungsgruppe REMEMBER

Titel/Untertitel:

Erinnerung an den Holocaust im Religionsunterricht. Empirische Einblicke und didaktische Impulse. M. e. Vorwort v. Z. Gross u. Y. Katz.

Verlag:

Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2020. 276 S. = Religionspädagogik innovativ, 35. Kart. EUR 29,00. ISBN 9783170389120.

Rezensent:

Carsten Gennerich

Das Buch hat zwei wesentliche Merkmale: (1) Es thematisiert erstmals in einem ganzen Buch die Holocausterinnerung im Religionsunterricht. Das ist äußerst verdienstvoll, denn es eröffnet den wissenschaftlichen Diskurs für das Thema und weiterführende Forschungsfragen. (2) Das Buch ist das Gemeinschaftswerk einer umfangreichen Forschungsgruppe mit 17 Mitgliedern: Stefan Altmeyer, Reinhold Boschki, Sonja Danner, Ralf Gaus, Burkard Hennrich, Martin Jäggle, Andrea Lehner-Hartmann, Stefan Lemmermeier, Rebecca Nowack, Viera Pirker, Martin Rothgangel, Thomas Schlag, Wilhelm Schwendermann, Julia Spichal, Angelika Treibel, Anna Weber, Michèle Wenger.

Eröffnet wird das Buch mit einem Vorwort von Yaacov J. Katz und einer Hinführung »›Holocaust Education‹ als Herausforderung und Meilenstein für den Religionsunterricht« von Zehavit Gross. Über einen allgemeinen Ergebnisbericht hinaus bietet das Buch (a) länderspezifische Analysen für Deutschland, Österreich und die Schweiz, (b) Begründungen für die Erinnerung an den Holocaust im Religionsunterricht (RU) und Bedingungen für eine gelingende Erinnerung an den Holocaust, sowie (c) exemplarische Lehrplan-analysen zum Thema der Holocausterinnerung (österreichische Lehrpläne, katholische Lehrpläne für den RU an Gymnasien in Baden-Württemberg, Hessen, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen, evangelische Lehrpläne allgemeinbildender Schulen in Baden-Württemberg sowie Schweizer Lehrpläne). Überlegungen zu religionspädagogischen Konsequenzen schließen das Buch ab.

Das umfangreichste materiale Kapitel stammt von Rebecca Nowack und Angelika Treibel, die in Kapitel 2 »Vorgehensweise und Ergebnisse der empirischen Studie« erläutern. Die berichtete Studie hat einen Fragebogen mit offenen und geschlossenen Frageformaten angewendet. Insgesamt umfasst die Stichprobe 1204 Lehrer und Lehrerinnen, 857 aus Deutschland, 219 aus Österreich und 125 aus der Schweiz. Mit 40 % stellen die Gymnasiallehrer die größte Gruppe dar, wobei alle Schulformen vertreten sind (u. a. 14 % Berufliche Schule, 2 % Förder- und Sonderschule). 80 % der Befragten geben an, dass sie das Thema »Erinnerung an den Holocaust« unterrichten, wobei 12 % dabei keinen Bezug zu den Lehrplänen erkennen können. In einer methodischen Perspektive dominieren mit über 70 % »Unterricht« und »Diskussionen« im Klassenzimmer. Mit 47 % und 48 % werden dokumentarische Aufnahmen (Film u. Ton) sowie Spielfilme verwendet. 40 % führen Exkursionen zu Gedenkstätten durch. Für ihren Unterricht greifen 48 % auf käufliche Unterrichtsmaterialien zurück und 62 % auf selbst erstellte Materialien. Seinen Schwerpunkt mit 71 % hat das Thema »Erinnerung an den Holocaust« in der Altersgruppe 14–16 Jahre. In der Grundschule wird das Thema weniger unterrichtet (9 %). Im Allgemeinen werden die Schüler mit 76 % als ansprechbar auf das Thema erlebt. Wenn dies nicht der Fall ist, dann eher aufgrund eines generellen Desinteresses an gesellschaftlichen Themen. Die Antworten auf die offenen Fragen werden zur Illustration der quantitativen Befunde im Text eingeflochten. Die Autoren würdigen in ihrer abschließenden Diskussion besonders das hohe Interesse der Lehrerschaft an dem Thema und die Aufgeschlossenheit der Schüler. Als Problembereiche identifizieren sie, (a) dass nur 56 % einen Lehrplanbezug des Themas konstruieren können, (b) dass in den offenen Antworten vielfach die Steuerung der emotionalen Berührung als Herausforderung benannt wird und (c) dass zwei Drittel der Lehrenden keinen Einfluss der Veränderungen in Europa aufgrund von Migration, Rechtspopulismus und zunehmendem Antisemitismus wahrnehmen können.

Das zweite umfangreichere Kapitel stellt die Schlussbetrachtung der ganzen Forschungsgruppe zu den Konsequenzen der Forschungsergebnisse dar. In diesem Abschlusskapitel werden die Ambivalenzen im Unterrichten der Erinnerung an den Holocaust erörtert, Potentiale des Religionsunterrichts für das Thema aufgewiesen, Antisemitismusprävention als Aufgabe des RU bekräftigt und der Beitrag des RU zur Demokratieförderung und Menschenrechtsbildung unterstrichen. Abschließend wird auf die Bedeutung eines fächerübergreifenden Unterrichts zu dem Thema für die Schulkultur hingewiesen, auf die Notwendigkeit, Lehrpläne zu überarbeiten und die Perspektive, das Thema in einer interreligiösen Perspektive in Kooperation mit dem islamischen RU zu erschließen. Vielfältige didaktische Impulse schließen das gut lesbare Werk ab.