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Ausgabe:

April/2023

Spalte:

376-377

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Rosa, Hartmut

Titel/Untertitel:

Demokratie braucht Religion. Mit einem Vorwort von Gregor Gysi.

Verlag:

München: Kösel Verlag (Verlagsgruppe Random House) 2022. 80 S. Kart. EUR 12,00. ISBN 9783466373031.

Rezensent:

Gerhard Wegner

Die These der Broschüre ist prägnant formuliert: Die heutige Gesellschaft brauche Kirche und Religion. Wenn sie das vergisst, »ist sie endgültig erledigt« (74). Warum? Weil Religion und Kirche in der Gesellschaft die von Hartmut Rosa breit ausgearbeiteten »Resonanzverhältnisse« vergegenwärtigen. Die Kraft der Religion bestünde darin, »vertikale Resonanzversprechen« geben zu können, indem sie sagt: »Am Grund meiner Existenz liegt nicht das schweigende, kalte, feindliche oder gleichgültige Universum, sondern eine Antwortbeziehung.« (71) »Da ist einer, der hat dich gemeint, der hat dich angerufen, der hört dich auch, auch wenn er nicht im Hier und Jetzt verfügbar ist.« (72) Gebe es solche transzendenten Verankerungen nicht mehr, überließe sich die Gesellschaft zerstörenden Tendenzen, die nur noch auf weitere Beschleunigung zielen würden.

R. kommt zu dieser These vor allem aufgrund seiner »Resonanztheorie«. Sie beschreibe das, was heute Menschen brauchen, um der Selbstzerstörung der Gesellschaft Widerstand zu leisten. Mit Resonanz ginge es darum, sich »anrufen zu lassen« (56). Näherhin spezifiziert er Resonanz durch vier bestimmende Elemente: (1) Affizierung, d. h. durch das Berührtsein von etwas Neuem, Anderem, auch Irritierendem. (2) Selbstwirksamkeit: »Das, was ich tue, tritt mit diesem Anderen in eine Art von Verbindung.« (59) Mit messbaren Folgen: »Da ändert sich sogar meine Atemfrequenz, mein Herzschlag, mein Hautwiderstand und es kommt zu einer veränderten Hormonausschüttung« – was den »Moment des Sich-lebendig-Fühlens« ausmache (61). (3) Transformation: Ich verwandle mich, komme in eine andere Stimmung, auf andere Ge­danken – dem Gegenteil zum Burnout, was unsere Gesellschaft heute prägen würde (vgl. 44 ff.). (4) Unverfügbarkeit des gesamten Geschehens. Wohl gerade deswegen baut R. einen wichtigen Vorbehalt ein: Je stärker Menschen in ostentative Begeisterung ausbrechen würden, desto weniger Resonanz sei vorhanden (63). Ein Konzert der Stones hätte folglich nichts mit Resonanz zu tun.

Diese Einschränkung weist auf das Grundproblem in R.s Theorie hin: Resonanzerfahrung, so wichtig sie ist, ist zutiefst ambivalent. Auch die Sportpalast-Rede von Goebbels 1944 erzeugte Resonanz – nur nicht diejenige, die R. gerne hätte. Ein »sich anrufen lassen« als solches zu feiern – ohne inhaltliche Kontur, kann sozial sehr gefährlich sein. Die Kirchen sollten deswegen mit R.s Anbiederung vorsichtig umgehen.