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Ausgabe:

April/2023

Spalte:

374-376

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Liebsch, Burkhard, u. Werner Stegmaier

Titel/Untertitel:

Orientierung und Ander(s)heit. Spielräume und Grenzen des Unterscheidens.

Verlag:

Hamburg: Felix Meiner Verlag 2022. 276 S. = Blaue Reihe. Kart. EUR 29,90. ISBN 9783787341153.

Rezensent:

Lennert Thomas

Dieses Buch ist weder Monographie noch Sammelband – es ist vielmehr Dialog-Literatur. Zwei differente philosophische Ansätze – vertreten durch profilierte Vertreter – treffen hier aufeinander und treten in einen Dialog. Werner Stegmaier führt diesen Dialog stellvertretend für die Orientierungsphilosophie, deren Hauptwerk er 2008 verfasste (Werner Stegmaier: Philosophie der Orientierung, Berlin/New York 2008). Die Alteritätsphilosophie wird vertreten durch Burkhard Liebsch. Grundfrage des Dialogs ist die Frage, inwieweit Andersheit Orientierung ermöglicht oder sie wesentlich verhindert. Beide Autoren stehen in einem Traditionszusammenhang: W. Stegmaier verweist immer wieder auf F. Nietzsche und N. Luhmann, B. Liebsch insbesondere auf E. Levinas und J. Derrida. Die Autoren konfrontieren ihre Ansätze und die Autoren ihrer philosophischen Tradition, indem die Kapitel, die von jeweils einem der beiden verfasst sind, auf das vorherige Kapitel antworten. Es geht nicht darum, den anderen Philosophen zu überzeugen oder die differenten Ansätze zu vereinigen, sondern um die Präzisierung und Herausforderung des eigenen Denkens. Die Grundfrage ist also nicht nur auf die Reflexion von Orientierung zu beziehen, sondern auch auf die mögliche Präzisierung des Alteritätsbegriffs: kann Alterität, die Andersheit des anderen, durch Orientierung verarbeitet werden oder bleibt sie entzogen? Einer Einleitung, die die dialogische Methodik und die Grundfrage des Buchs erläutert, folgen sechs Kapitel. Die zwei letzten Kapitel dieser sechs bilanzieren.

Kapitel I (W. Stegmaier) fundiert die folgenden Kapitel durch eine Analyse der Orientierungsfunktion des Unterscheidens. Wer unterscheidet, der hat Möglichkeiten, im Prozess der Orientierung weiterzukommen. Es hilft, Entscheidungen zu werten, um Orientierungen zu verfestigen. Orientieren durch Unterscheiden trifft in alltäglicher Orientierung auf den anderen. Dieser wird zur besseren Orientierung etikettiert. Die Ausgangsfrage wird präzisiert: respektiert die Einordnung des anderen durch Unterscheidungsmerkmale seine entzogene, nicht sprachlich einzuholende Alterität?

Kapitel II (B. Liebsch) bietet, ausgehend vom literarischen Werk Hermann Brochs, das alteritätstheoretische Fundament des Dialogs. Broch schreibt – und hier ist der Anknüpfungspunkt für B. Liebsch – über die Orientierungslosigkeit seiner Zeit und die damit verbundenen Schrecken über diese, die in dem Wegfallen substanzieller Begriffe von Mensch und Welt begründet sind. B. Liebsch fragt mit Broch, ob es einen Zwischenweg gibt zwischen absoluter Orientierungslosigkeit und absoluter, aber illusorischer Sicherheit eines substanziell verstandenen Bilds von Mensch und Welt. Broch fragt daran anschließend, ob in zerbrochener Weltorientierung die Fremdheit des anderen zum Ausgangspunkt eines neuen Denkens werden kann, das ohne metaphysisches System auskommt. Was bei Broch angedacht ist, nämlich eine Philosophie der Alterität, wird nun von anderen ausführlich reflektiert (von M. Buber, E. Husserl und E. Levinas). Unterscheiden, und hier nimmt B. Liebsch den Reflexionsimpuls von W. Stegmaier auf und denkt ihn alteritätsphilosophisch weiter, kann den anderen auf Grund seiner Entzogenheit nie gänzlich erfassen.

Kapitel III (W. Stegmaier) knüpft hier an: Orientierung zwischen Menschen kommt selten ohne wertende Unterscheidungsmerkmale aus – Alterität wird übergangen. Der andere dient als Orientierungshilfe, weil die Differenz seiner zur eigenen Orientierung zur Reflexion über Orientierung anregt.

Kapitel IV (B. Liebsch) verknüpft Orientierung und Alterität mit dem Werk Der Name der Rose (Umberto Eco). Der Verweis auf das Werk Ecos dient u. a. der Feststellung, dass Orientierung im metaphysischen, substanziellen Sinne keine ernstzunehmende Option für den heutigen Menschen ist. Die Entdeckung der Alterität als Leitfigur philosophischen Denkens macht Orientierung nicht einfacher, sondern komplexer.

Es folgt die Bilanz des Dialogs von W. Stegmaier (Kapitel V): Auch heute ist es möglich, sich zu orientieren, nur »absolute Orientierung« (188) – im Sinne eines unwiderlegbaren metaphysischen Systems, gerade auch als religiöse Orientierung – ist unglaubwürdig geworden. Im Grunde ist Orientierung als absolute selbstwidersprüchlich, weil man sich gar nicht orientieren muss, wenn das religiöse und/oder metaphysische System alle Orientierung bereits enthält.

Der inhaltliche Teil des Dialog-Buchs endet mit der Bilanz B. Liebschs (Kapitel VI). Der Orientierungsbegriff Stegmaiers wird von Liebsch fragend kritisiert: ist ein Meta-Begriff von Orientierung überhaupt möglich und müsste man sich nicht vorher über die Perspektivität dieser Philosophie orientieren? Gibt es nicht durch den Leib vorgegebene, nicht-perspektivische Grundorientierungen wie rechts, links, oben und unten? Orientierung funktioniert nicht ohne Alterität – Alterität verunsichert jedoch jede nicht-absolute Orientierung.

Alterität wird auch in diesem gelungenen Buch nicht aufgehoben: am Ende bleibt es bei der Differenz der Ansätze. Gibt es kein absolutes philosophisches oder theologisches System, ist die bleibende Differenz nur folgerichtig. Das Buch ist als Einführung in die Orientierungsphilosophie und in die Philosophie der Alterität geeignet. Es werden gekonnt historische Positionen referiert und mit der eigenen in Beziehung gesetzt. Inhaltlich ist im Rahmen dieser Rezension nichts zu beanstanden – käme eine inhaltliche Kritik des Buches doch einer Fundamentalkritik zweier philosophischer Ansätze gleich. Inhaltliche Kritik des je anderen Ansatzes ist wesentlicher Inhalt des Buchs und deswegen dem Rezensenten bereits vorweggenommen.

Zwei Anmerkungen sind methodischer Art, die erste hat einen inhaltlichen Bezugspunkt: 1) Es ist nicht eindeutig, welche Hermeneutik die Autoren im Verstehen fremder Positionen, gerade auch historischer Philosophien, anwenden. Handelt es sich bei diesen Interpretationen um Orientierungen über fremde Texte? Bleibt Alterität hier gewahrt? 2) Eine Vielzahl fremder Positionen sind in die Texte eingeflochten. Alterität und Orientierung werden so nicht immer direkt argumentativ konfrontiert, sondern durch verschiedene kurze Exkurse unterbrochen. Der argumentativen Stringenz und dem Dialogcharakter hätte eine Reduktion fremder Positionen gutgetan.

Das Buch ist sprachlich notwendig komplex, ohne jedoch durch das Benutzen philosophischer Fachbegriffe unnötig unverständlich zu werden. Als Einführungswerk, welches nicht nur in die eigene Philosophie einführt, sondern sie auch gleich durch die jeweils fremde Position hinterfragt, ist das Buch ausdrücklich empfohlen. Aber auch wer eine aktuelle und noch frische Debatte zweier Philosophien nachvollziehen will und wie sie mit ungewöhnlicher und neuartiger dialogischer Methodik vollzogen wird, dem ist die Lektüre empfohlen.

Es bleibt jedem oder jeder Lesenden selbst überlassen, ob er oder sie sich im theologischen Denken von zwei Philosophien her-ausfordern lassen will, die eine metaphysische zeitlose Orientierung an absoluten Größen, wie beispielsweise Gott, für überholt halten.