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Ausgabe:

April/2023

Spalte:

366-367

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Rottschäfer, Ulrich

Titel/Untertitel:

Fernbezüge des Ravensberger Pietismus im 18. Jahrhundert. Verbindungen von Friedrich August Weihe (1721–1771) und Gottrich Ehrenhold Hartog (1734–1816) zu gesellschaftlichen Eliten im In- und Ausland.

Verlag:

Bielefeld: Verlag für Regionalgeschichte 2022. 164 S. m. 18 farb. u. 15 s/w Abb. Geb. EUR 28,80. ISBN 9783739513591.

Rezensent:

Frank Stückemann

Friedrich August Weihe gehört neben seinem selbsternannten Enkel Johann Heinrich Volkening (1796–1877) zu den wichtigsten Vertretern der Erweckung in Minden-Ravensberg. Dass 2021 sein 300. Geburtstag und gleichfalls sein 250. Todestag keinerlei öffentliche oder publizistische Beachtung fanden, dürfte weniger an Geschichtsvergessenheit oder Desinteresse liegen, wie Ulrich Rottschäfer eingangs konstatiert, sondern vielmehr Krise und Ende einer auf Tradierung selbstreferenzieller Quellensegmente beschränkten Historiographie bzw. Hagiographie markieren.

Diese hatte von Anfang an durch Auswahl und Anonymisierung von Weihe-Briefen (Sammlung erbaulicher Briefe, 2 Bde., Minden: M. G. Franke, 1774 und 1776) und 1780 durch die Weihe-Biographie seines Sohnes Karl (1752–1829) für eine reduzierte und von missliebigen »weltlichen« Elementen gereinigte Quellenbasis gesorgt. Gleiches gilt für Karl Weihes Lebensbeschreibungen weiterer Erweckungsprediger aus dem Freundes- und Schülerkreis seines Vaters, etwa zu Gottreich Ehrenhold Hartog. Aufsätze über F. A. Weihe, die über erbauliches Wiederkäuen und unkritische Lobhudelei hinausgehen, sind daher Ausnahmen und – wie die zuletzt von Martin Brecht (BWKG 2002) und Christian Peters (PuN 2004) vorgelegten Arbeiten – fast oder mehr als zwanzig Jahre alt.

Es verwundert keineswegs, dass die für Kirchenhistoriker eher abseitige Zeitschriftenforschung R. den entscheidenden Impuls geliefert hat: Sechzehn in Vergessenheit geratene Weihe-Briefe, 1889 im Evangelischen Monatsblatt für Westfalen publiziert, dokumentieren zweifelsfrei enge Beziehungen des Erweckers zu mennonitischen Gemeinden. Die Kontakte entstanden anlässlich von F. A. Weihes Kollektenreisen zugunsten seines 1763 abgebrannten Pfarrhauses. Seinem Stundenhalter Johann Heinrich Löhmann (1721–1779) fiel dabei die Schlüsselrolle zu: Im Frühjahr 1766 begleitete er Weihe nach Amsterdam, wo er 1744 bis 1759 beim dortigen Mennonitenprediger Johannes Deknatel (1698–1759) eine Vertrauensstellung genoss und testamentarisch mit einer Leibrente bedacht worden war.

Die zweite Kollektenreise führte Weihe im Herbst 1766 zur Mennonitengemeinde in Altona und zum Reeder Jacob Gysbert van der Smissen (1746–1829), seinem späteren Briefpartner. Dieser Mennonit korrespondierte mit Vertretern des Pietismus wie Matthias Claudius, Johann Georg Knapp, Johann Kaspar Lavater, Heinrich Melchior Mühlenberg, Justus Perthes, Heinrich Jung-Stilling, Johann August Urlsperger und der Basler Christentumsgesellschaft. Sein Vermögen erwarb er u. a. im dänischen Sklavenhandel. Dieses bereitete seinem Erwählungsbewusstsein offenbar ebenso wenig Skrupel wie die Rassentrennung dem Apartheitsregime Südafrikas; das Thema blieb im erbaulichen Briefwechsel ausgespart.

R. weist nach, dass die durch Weihe initiierte Erweckung erst nach besagten Kollektenreisen von Erfolg gekrönt wurde und an überregionaler Breitenwirkung gewann. Sie geht ebenso auf mennonitische Einflüsse zurück wie Weihes von der pietistischen Heilsordnung abweichende Theologie der Krippe und des von Gott beschenkten Christenmenschen. Auch teilen van der Smissen und der spätere Weihe samt seinen Schülern eine Offenheit den Herrnhutern gegenüber, die der Hallenser Pietismus weitgehend vermissen lässt. Man darf darauf gespannt sein, ob in der S. 164 angekündigten Publikation R.s Lieddichtung der Gohfelder Erweckung; Minden-Ravensberger Glaubenslyrik im 18. Jahrhundert die Einflüsse der Taufgesinnten auch hymnologisch eine Rolle ge-spielt haben.

Nach Weihes Tod wurden die Kontakte zur Familie van der Smissen von Gotthold Ehrenreich Hartog fortgesetzt. Hartog war ein enger Freund Weihes und veröffentlichte etliche Predigtsamm-lungen, die bis weit ins 19. Jh. hinein nachgedruckt und in erweckten Kreisen rezipiert wurden. Hartogs älteste Tochter heiratete 1795 einen Großneffen von Jacob Gysbert van der Smissen; dessen Sohn Jacob (1785–1846) ehelichte 1805 die Enkeltochter Weihes. Der geistliche Austausch der Väter und die Fortsetzung ihrer freundschaftlichen Verbindung in der nächsten Generation mündeten dreißig Jahre später in Eheschließungen ihrer Nachkommen.

Durch Erschließung neuer Quellen, durch Einbeziehung neuerer Forschungsergebnisse zu Pietismus, Aufklärung und Vormärz sowie durch sorgfältige und kritische Abgleichung dieser Trouvaillen mit der bisherigen Textüberlieferung gelingt es R., die ausgefahrenen Gleise eines verklärenden Personenkults zu überwinden, der teilweise bis heute das Bild der Erweckung in Minden-Ravensberg prägte und die historische Erforschung eines seiner ersten und zweifellos bedeutendsten Protagonisten behinderte. Umgekehrt lässt der Nachweis von mennonitischen Kontakten bei Weihe und seinen Schülern die Ursprünge der Minden-Ravensberger Erweckung in einem ganz neuen Licht erscheinen. Auch der westfälischen Aufklärungsforschung bietet R.s Werk wichtige Impulse, vor allem, was die bislang als singulär erachtete Teilnahme von Taufgesinnten an Natorps Quartalschrift für Religionslehrer anbelangt.