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Ausgabe:

April/2023

Spalte:

357-359

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Harrington, Joel F.

Titel/Untertitel:

Meister Eckhart. Der Mönch, der die Kirche herausforderte und seinen eigenen Weg zu Gott fand. Aus dem Englischen v. Norbert Juraschitz und Andreas Thomsen.

Verlag:

München: Siedler Verlag 2021. 544 S. Geb. EUR 28,00. ISBN 9783827500953.

Rezensent:

Markus Vinzent

Wie gut es ist, wenn ein Nichtspezialist, »Eindringling« oder »Außen-seiter« (486 f.) wie Joel F. Harrington sich einem anderen Gebiet als dem eigenen zuwendet und sich in diesem Werk von der Arbeit am 16. Jh. einen Schritt zurück ins frühe 14. Jh. wagt, zeigt das hier zu besprechende Werk. Es ist in vielerlei Hinsicht eine vorzügliche Einführung in das Leben sowie die Lehren Meister Eckharts – und auch in die Sozialgeschichte seiner Zeit. Gegen Ende wird das Blickfeld sogar bis in die Gegenwart ausgeweitet, indem Eckharts Spuren und seine Rezeption über Devotio moderna, Reformation, Aufklärung, Nationalsozialismus bis zu New Age und der Kritik am Mystizismus der Bochumer Schule verfolgt werden. Zudem ist die deutsche Übersetzung des ursprünglich englisch erschienenen Buches flüssig, in der Terminologie gewählt (eine kleine Ausnahme, siehe unten) und eingängig zu lesen.

Das Buch unterscheidet sich von einer Reihe anderer Monographien zu Eckhart, insofern es weniger systematisch angelegt ist als etwa das bekannte Eckhartbuch Dietmar Mieths (»Meister Eckhart«, 2014) oder das in viele Tiefenschichten und Details eindringende von Karl Heinz Witte (»Meister Eckhart: Leben aus dem Grunde des Lebens: Eine Einführung«, 2013) – um nur die wichtigsten neueren zu nennen. Etwas ungewohnt für deutsche Historiker bemüht sich H. nicht nur um Quellentreue, sondern auch macht auch weidlich Gebrauch von – meist – gut begründeten Spekulationen und Intuitionen. Vielleicht sind dies gerade die spannendsten Abschnitte, nicht nur für Kennerinnen und Kenner der Materie, sondern auch für die interessierten Laien, für die dieses Buch gewiss mitgeschrieben wurde. Notwendig wurden solche, oft mit Umsicht vorgetragenen Ausführungen, weil das Buch als Struktur die einer Biographie wählt. Und da wir auf weite Strecken hin von Eckharts Leben nur schlecht aus den erhaltenen Zeugnissen informiert sind – sowohl sein Geburtsjahr wie die Umstände seines Todes liegen im Dunkeln, auch die meisten Werke aus seiner Feder sind nur ungenau oder gar nicht näher zu datieren– nimmt H. eine auf seinen dramatischen Spannungsbogen hin angelegte Verortung und zeitliche Einordnung von Schriften und Predigten vor.

Liest man das Buch in dieser Hinsicht als Roman, indem man mit den Datierungen die in sie hineingelegte geistige Entwicklung Eckharts nachvollzieht, entsteht ein plausibler Weg vom jungen aus niedrigem Rittergeschlecht kommenden geistigen Gralssucher. Dankbar nimmt der Spezialist die reichen Bezüge wahr, die H. zum historischen und literarisch-»weltlichen« Umfeld Eckharts bietet und die auch in der Eckhartforschung oft unterbeleuchtet bleiben. Eckhart schwingt sich zunächst als selbstbewusste Ausnahmebegabung in die höchsten Höhen der damaligen wissenschaftlichen Welt der Dominikaner auf und versucht Albertus Magnus und Thomas von Aquin und alle anderen zu übertreffen, um an der Wissenschaft – mit ihrem geringen Widerhall – und ihrer Selbstverstiegenheit zu scheitern. In Kritik an dieser Wissenschaft und sich selbst schlägt er in reiferen Jahren den Weg der Suche nach Weisheit im eigenen Innern ein und begrieft diesen Weg zugleich als einen Weg des praktischen Dienstes für andere. Diese doppelte Bewegung wird gedeutet als Eckharts Abschiednehmen von seiner eigenen großmannssüchtigen Unternehmung eines riesigen philosophisch-theologischen Werkes, dem unvollendeten Opus tripartitum, das er spätestens in der Straßburg Zeit nach seinem ersten Magistrat (im Paris der Jahre 1302–1303) und dann noch stärker in der Kölner Zeit nach seinem zweiten, letztlich noch stärker zum wissenschaftlichen Scheitern führenden zweiten Magistrats (im Paris der Jahre 1311–1313) zugunsten von Predigten und praktischer Ordensorganisation aufgegeben habe. Die Dramaturgie läuft schließlich nicht zwangsläufig.

H. selbst betont, dass die Entwicklung hin zum Inquisitionsprozess gegen Eckhart auf vielen Zufällen und Missverständnissen beruht, aber gut nachvollziehbar mit seiner Frauenseelsorge– insbesondere für Beginen und Menschen, die in die Nähe derer vom »freien Geist« Genannten – zu tun hat. Außerdem führt die Publikumsorientierung seiner deutschsprachigen Predigt und die Loslösung des »weglosen Weges« zur Erreichung der Einheit mit Gott bzw. der inneren Einheit von einer spezifischen institutionellen Verankerung weg.

Selbst wenn sich Laien oder Fachleserschaft von der Roman-struktur lösen und die Kapitel schlicht als eine systematische Gliederung um die Hauptthemen von Eckharts Werk lesen, ermöglichen sowohl die vielen Zitate und Interpretationen wie die reichlichen Deutungen H.s eine vertiefte Lektüre und ein besseres Verständnis von Eckharts Schriften und Gedanken.

Das Werk ist auf dem Stand der Eckhartforschung von 2015–2016, und es wird H., der sich um die jüngsten Forschungsergebnisse redlich bemüht hat, freuen zu erfahren, wie viel sich in der Eckhart- forschung seither getan hat. Manche dunkle Stelle in der Vita hat sich ein wenig gelichtet. Mit der Entdeckung von neuen Pariser Quästionen des Meisters aus dessen zweiten Magistrat und der Erschließung der Diskussion um diese herum (Jana Ilnicka) und mit der Wiederentdeckung einer Eckharthandschrift auf der Wartburg (Dank der Bemühungen von Balász Nemes) mit theologisch-systematischen Quästionen in deutscher Sprache, konnte gezeigt werden, dass man nicht mehr länger von einem Scheitern oder einer Nichtwahrnehmung Eckharts als Lehrer und Scholastiker sprechen kann, sondern dass die tiefsten Gedanken, die weite Kreise erreichten, in der Auseinandersetzung mit anderen Lehrern und schließlich mit dem Lehramt in seiner Weiterentwicklung als Wissenschaftler angelegt waren. Die dramatischen Kapitel II (»der Ge- lehrte«), III (»der Prediger«) und IV (»die geistige Ikone«) bilden ein einziges komplexes Gefüge des Lebens, Wirkens, Denkens und Glaubens von Meister Eckhart. Es wäre wunderbar, wenn H. in einer weiteren Auflage des Buches auch dieses Gefüge noch einmal in eine Dramaturgie umsetzen könnte, und unter Einbeziehung der neuen Kenntnisse die fesselnde Biographie neu konzipieren könnte.

Eine detaillierte wissenschaftliche Kritik an diesem Buch, wie es angelegt ist, braucht es nicht, so lange man akzeptiert, dass Datierungen meist spekulativ sind, und einige Beobachtungen (die nichts Zentrales der Dramaturgie betreffen) fraglich sind:

H. etwa bezweifelt, dass »die Heldentaten der literarischen Krieger« der Heldenromane seiner Zeit mehr als einen »allenfalls angenehmen Zeitvertreib« für Eckhart dargestellt hätten (70) – doch es gibt eine Reihe von Beispielen, dass solche Ritterfiguren und -szenen bei ihm nachwirken; zur Osterpredigt von 1294 wird ausgeführt, dass es »vermutlich […] nicht die einzige Predigt« war, die er in diesem Jahr hielt, aber dass es »die einzige [sei], die er für würdig erachtete, bewahrt zu werden« (169) – dabei ist es eher Zufall, dass diese Predigt erhalten blieb. Kürzlich hat Maxime Mauriège (Köln) eine noch unveröffentlichte Ansprache Eckharts aus derselben Zeit entdeckt, und Loris Sturlese hat überhaupt darauf hingewiesen, dass Eckhart ganz im Unterschied zu vielen Größen in seinem Umfeld zeit seines Lebens eher sorglos mit der Verbreitung seiner Schriften war, nämlich keine seiner Pflichtwerke (Antrittsvorlesung, Sentenzenkommentar …) »veröffentlichte«, was gegen die hier versuchte Vorstellung von Eckhart als Wissenschaftler mit Starallüre spricht. Die Definition von peciae auf S. 188 scheint mir inkorrekt – es waren keine »achtseitige[n] Buchauszüge«, sondern bei der Universität von den Lehrenden hinterlegte, von ihnen autorisierte Kopiervorlagen. Ein kleines Übersetzungsproblem ist die Aussage, Eckhart habe »am Ende den Rang eines Magisters (das Äquivalent des heutigen Doktortitels) erlangt« (200). Das stimmt natürlich nur für den angelsächsischen Lehrbetrieb, bei dem der Doktor zum Lehren befähigt, doch im Deutschen müsste man den Magister mit Habilitation oder Professur gleichsetzen – die Verleihung des Magistertitels umfasste damals die Lehrbefähigung und das Amt des eigenständigen Forschenden und Lehrenden.

Ein Letztes, nur um die selten gewordene Produktionsgüte dieses Buches anzuzeigen: Mir sind nur zwei Druckfehler begegnet (ein doppeltes »Das« auf S. 177 und ein »das« statt »dass« auf S. 296!) und ein der Übersetzung geschuldetes »von«, wo man »der« erwarten würde (219).

Es sollte deutlich geworden sein, dass es ein historischer, geistiger und geistlicher Genuss ist, dieses Buch zu lesen, trotz seiner Länge. Das Buch ist allen, die sich für Eckhart und seine Zeit inter-essieren oder auch über ihn forschen, ans Herz zu legen. –Es zeigt, dass man in der Wissenschaft ab und zu gewiss auch zeitraubende, aber dafür wertvolle Spaziergänge über fremde Felder unternehmen kann und soll, um aus einem Außenblick neue Aufschlüsse zu eröffnen.